„Wenn die Invasion erst einmal läuft, ist es schon zu spät“
Hier, auf dieser schneebedeckten Grenzbrücke zwischen zwei mittelalterlichen Festungen in einem russischsprachigen Winkel Estlands könnte der nächste große Krieg ausbrechen. Die Stadt Narwa an der Grenze zwischen Estland und Russland steht zurzeit im Mittelpunkt des Widerstands gegen die nach Aussagen der Stadtbewohner ständigen Provokationen und Sabotage vonseiten Moskaus – von Störungen bei der Satellitennavigation bis zu gestohlenen Grenzmarkierungsbojen, laut schallender Propaganda, Überwachungsdrohnen und brummenden Zeppelinen, die mit dem „Z“ der russischen Armee markiert sind.
„Wir versuchen wirklich nicht, den Dritten Weltkrieg zu beginnen, aber wir bemerken hier ständige Versuche, uns zu etwas zu provozieren, was dann eine sehr viel größere Tragweite hätte“, sagt Egert Belitsev, Generaldirektor der estnischen Polizei und Grenzschutz-Behörde.
Etwa ein Viertel der 1,4 Millionen Einwohner Estlands sind ethnische Russen. Die meisten von ihnen sind zwar estnische Staatsbürger und fühlen sich Estland verbunden. Aber der Kreml ist geübt darin, ethnische Unterschiede auszunutzen und zu behaupten, man spiele beim Schutz der russischen Diaspora eine spezielle Rolle. Das war bereits in Georgien und Moldawien die russische Taktik und auch der Vorwand für den Einmarsch in die Ukraine.
In Estland befürchtet man, der Kreml könne hier dieselbe Karte ausspielen und versuchen, sich den Osten des Landes anzueignen, mit seinem großen Bevölkerungsanteil von ethnischen Russen.
Die Nato hätte dann – so offenbar die Überlegungen im Kreml – zwei Optionen: einen Weltkrieg zu beginnen oder nichts zu tun. Damit wäre allerdings die Grundidee der Allianz hinfällig: Artikel 5, wonach ein Angriff auf eines der Nato-Länder als ein Angriff auf alle Mitglieder gilt.
Der Sicherheitsbeamte Belitsev, der der estnischen Ethnie angehört, glaubt nicht, dass die Nato-Verbündeten Estlands auf das, was in Narwa passieren könnte, vorbereitet sind.
Er beschreibt die Stadt, die drittgrößte Estlands, als „das Ende der freien Welt“. Ihre Entfernung zur Hauptstadt Tallin ist größer als die zur russischen Metropole St. Petersburg. Von den etwa 56.000 Einwohnern Narwas sprechen 96 Prozent Russisch, ein Drittel verfügt auch über einen russischen Pass.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte im Frühjahr 2022, kurz nach Beginn seines totalen Kriegs gegen die Ukraine, sogar behauptet, Narwa gehöre historisch zu Russland.
Rund 900 britische Soldaten sind als Teil der Nato-Streitkräfte in Estland stationiert, auf dem Luftwaffenstützpunkt Tapa, westlich von Tallinn. Auch Frankreich hat Truppen dorthin entsandt. Die britische Regierung hat erklärt, ihr 4. Brigade Combat Team werde für ein schnelles Eingreifen bereitgehalten.
Die Nato hat in den meisten östlichen Mitgliedstaaten Einsatztruppen gebildet und plant, die in Lettland und Litauen noch zu verstärken. In Estland jedoch sind die Briten nicht vertreten, da sie nur über zwei bewaffnete Brigaden verfügen.
Im Fall eines russischen Angriffs ist es unwahrscheinlich, dass die Nato-Truppen in Tapa, gemeinsam mit den 7700 aktiven estnischen Streitkräften (im Fall eines Kriegs sollen sie auf 43.000 aufgestockt werden) ausreichen, um eine Offensive zurückzuschlagen.
Eine belgische Delegation beschäftigte während eines kürzlichen Besuchs Estlands lediglich der Aspekt, im Konfliktfall die eigenen Staatsangehörigen zu evakuieren. Eine ernsthafte Diskussion, wie man Truppen schnell zur Verteidigung der baltischen Länder entsenden könnte, habe es nicht gegeben, so der Sicherheitsexperte Belitsev.
„Ich glaube, das Problembewusstsein ist mit dem, das wir haben, nicht vergleichbar“, sagt er über die Verbündeten seines Landes. „Das gab es 2008 nicht (als Russland in Georgien einmarschierte, d. Red.) ebenso wenig wie 2014 (bei der Annexion der Krim-Halbinsel), und das gibt es auch heute nicht. Die Menschen begreifen die aktuelle Situation einfach nicht.“
Furcht vor einem Waffenstillstand in der Ukraine
Für Tallinn ist die Position gegenüber Moskau von existenzieller Tragweite. Der kleinste der drei baltischen Staaten gibt bereits 3,4 Prozent seines BIP für die Verteidigung aus und will das Budget im kommenden Jahr sogar auf 3,7 Prozent erhöhen – das ist anteilig weit mehr als die größeren EU-Länder zur Verfügung stellen.
Einen Waffenstillstand oder ein Ende des russischen Kriegs gegen die Ukraine, so die Befürchtung in Estland, könnte Moskau nutzen, um ein verwundbares Nato-Land anzugreifen. Diese Bedrohung macht die Überwachung der Grenze noch wichtiger.
„Wenn die Invasion erst einmal läuft, ist es schon zu spät“, sagt Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur in Tallinn. „Wir müssen uns um ein Frühwarnsystem kümmern und schon im Voraus ganz klar sagen, dass wir augenblicklich reagieren werden, wenn die erste Person die Grenze überquert.“
Estland hat lange und bittere Erfahrungen als russische Kolonie hinter sich. Erst 1991 erhielt das Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine Unabhängigkeit. Seitdem hat es sich sehr darum bemüht, seine Verbindungen zur EU und zur Nato zu festigen.
Die Gefahr, die von Moskau ausgeht, wurde 2014 offensichtlich, als der Geheimdienst-Offizier Eston Kohver entführt und in Russland inhaftiert wurde. Erst ein Jahr später kam er durch einen Gefangenenaustausch wieder frei.
„Können wir wirklich sicher sein, dass so etwas nicht noch einmal passiert?“, fragt sich Belitsev, während er auf der Narwa-Brücke nahe der Grenze steht und zu den erst kürzlich installierten estnischen Panzersperren hinüberblickt. Das Ziel ist laut Belitsev, jeden Meter von Estlands 338 Kilometer langer Grenze mit Russland mit moderner Technologie zu überwachen.
Das ist leichter gesagt als getan. Da ist zunächst einmal der 77 Kilometer lange Abschnitt entlang des Flusses Narwa. Nach der Entfernung von Grenzbojen durch Russland im vergangenen Sommer stieg die Zahl der Übergriffe auf estnisches Gebiet von 18 in den vergangenen zwei Jahren auf 96 allein im Jahr 2024.
Ohne die schwimmenden Grenzmarkierungen fällt es den estnischen Grenzbeamten schwer, zwischen versehentlichen Überschreitungen der Grenze und dreisten Versuchen, in die EU einzudringen, zu unterscheiden. „Wenn die Bojen nicht dort auf dem Fluss schwimmen, führt das zu einer Menge Fehleinschätzungen“, sagt Belitsev.
Die Russen blockieren auch GPS-Signale in der Region, wodurch Flugzeuge oder Drohnen nur noch schwer zu orten sind. Außerdem ist es dadurch für die Grenzbeamten fast unmöglich, Positionen in der freien Natur genau zu bestimmen.
Im Süden Narwas zieht sich die Grenze über 126 Kilometer durch den See Peipus. Danach schlängelt sie sich über 136 Kilometer weiter gen Süden, über zwei Straßenkreuzungen in Koidula und Luhhammaa.
Hier in der Nähe wurde damals Kohver entführt, wobei die Kidnapper das Sumpfland durchquerten. Während das morastige Gelände im Sommer eine natürliche Barriere bildet, ist es im Winter hart gefroren. „Im Winter ist es wie ein Flugplatz“, sagt Belitsev. „Hier kann man mit einem Flugzeug landen, wenn man will.“
157 Millionen Euro sollen nun in ein Programm fließen, um den Grenzschutz in Narwa zu verstärken. Laut Belitsev errichtet Estland eine sogenannte Drohnen-Mauer, die digitale Systeme zum Abblocken feindlicher Drohnen verwendet.
Zudem soll eine Polizei-Reserve von 1000 Sicherheitsbeamten im Notfall landesweit als Back-up dienen, zusätzlich zu den 29.000 Freiwilligen, die als Teil der Estnischen Verteidigungsliga ausgebildet werden.
In Narwa ist es gar nicht so einfach, die Zahl der Einsatzkräfte zu erhöhen, da alle Bewerber fließend estnisch sprechen und estnische Staatsbürger sein müssen, um in der Polizei zu dienen. „In dieser Region tun wir uns grundsätzlich schwer, neue Beamte zu rekrutieren“, so Belitsev.
In der gewaltigen Festung am Flussufer von Narwa, die im Verlauf ihrer fast 700-jährigen Geschichte unter anderem von Dänen, Deutschen, Polen, Schweden, Russen, Sowjets und nun den Esten gehalten wurde, erklärt die Direktorin des Stadtmuseums, Maria Smorzhevskikh-Smirnova, es sei schwierig, gegen Moskaus Informationskrieg anzukommen.
Im vergangenen Jahr wurde Smorzhevskikh-Smirnova online angegriffen, weil sie eine Ausstellung mit dem Titel „Narwa 44“ leitete, bei der es um die Zerstörung der Grenzstadt durch die sowjetischen Truppen im Zweiten Weltkrieg ging.
Der Kreml gebe den sich damals zurückziehenden deutschen Truppen die Schuld, erklärt Smorzhevskikh-Smirnova, doch die Fotos erzählten eine ganz andere Geschichte.
Die Ausstellung verärgerte den Stadtrat von Narwa. Ebenso ein riesiges Spruchband, das während der Feierlichkeiten zum russischen Sieg im Mai an der gen Russland gerichteten Seite der Festung aufgehängt wurde, mit der Aufschrift „Putin ist ein Kriegsverbrecher“.
Der Grenzübergang bleibt offen
Die estnische Regierung versucht derweil, ein Überkochen der schwierigen Beziehung zu seinen ethnischen Russen und Moskau zu verhindern. Während Finnland seine Grenzübergänge nach Russland geschlossen hat, hält Estland die Brücke in Narwa für Fußgänger weiterhin offen.
Das heißt aber, dass dieser Strom von Menschen ständig überwacht werden muss. Die gärende Unzufriedenheit ist denjenigen, die hier über die Grenze wollen, deutlich anzumerken.
Am Eingang des Grenzkontrollpunkts hat sich eine lange Schlange gebildet, die bis auf den Marktplatz der Stadt reicht. Hunderte warten hier im Schnee auf ihre Ausreise nach Russland.
Die Reisenden müssen einen langen, vereisten Gehweg über die Brücke bis nach Russland gehen, wobei viele von ihnen große Rollkoffer hinter sich herziehen und auf Russisch stöhnen, die estnischen Beamten würden sie mithilfe langwieriger Ausreisekontrollen zu stundenlangem Warten zwingen.
Belitsev gibt den Russen die Schuld, die Störungen verursachten und für Unmut sorgten, um sein Team schlecht aussehen zu lassen. Andererseits sei es aber auch nicht sein Job, den Transit in den „Aggressor-Staat“ zu erleichtern. „Es sollte nicht einfach sein, nach Russland einzureisen.“
Dieser Artikel erschien zuerst in der WELT-Partnerpublikation Politico.
Übersetzt aus dem Englischen von Bettina Schneider.
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