Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind 522 Tage vergangen. In Sderot, einer Stadt im Süden unweit der Grenze zu Gaza, gab es in den vergangenen eineinhalb Jahren rund 230 Raketenalarme – durchschnittlich also an fast jedem zweiten Tag.

Der Ort ist untrennbar mit dem grausamen Überfall verbunden. So kamen die ersten Bilder des Attentats aus Sderot. Etwa das eines weißen Pick-up-Trucks, auf dem vermummte und schwer bewaffnete Hamas-Terrorristen triumphierend durch die Stadt fahren. Oder das Foto einer Bushaltestelle, an der ein halbes Dutzend erschossener Rentner am Boden liegen. Sie hatten auf einen Reisebus gewartet, der sie ans Tote Meer bringen sollte und waren den Terroristen hilflos ausgeliefert.

Wie kaum ein anderer Ort in Israel verfügt Sderot wegen seiner Nähe zum Gaza-Streifen zwar über eine einzigartige Sicherheitsarchitektur mit zahlreichen Luftschutzbunkern. Doch seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober haben sich die Bedürfnisse vieler Menschen in dem Ort verändert. Eltern und Kinder sind nach dem Überfall traumatisiert und benötigen nicht nur physischen Schutz vor Raketenangriffe, sondern auch psychologische Unterstützung. Doch die staatlichen Angebote reichen längst nicht aus, um den großen Bedarf zu decken.

Nach Ausbruch des Gaza-Kriegs hatten sich die Menschen in Sderot zunächst in einer neuen Realität zurechtfinden müssen. 30.000 Bewohner verließen zunächst fluchtartig ihre Häuser und Wohnungen. Erst ein halbes Jahr später, im März, kehrten sie langsam zurück. Zu den Rückkehrern gehört Ziva Korsia, die seit 28 Jahren den „Bruce und Ruth Rapport“-Kindergarten leitet. WELT trifft die 63-Jährige zum Gespräch in ihrem Büro.

Korsia berichtet, wie sie am 7. Oktober 2023 eine ihrer Töchter in Tel Aviv besucht hatte. Ihre andere Tochter war mit den Enkelkindern in Sderot geblieben. Als die Hamas in die Stadt einfiel, konnte sie die Terroristen aus ihrem Fenster beobachten. Stundenlang hielt sich die Familie in ihrem Haus versteckt. Obwohl Korsia zum Zeitpunkt des Überfalls nicht in Sderot war, sind allein die Schilderungen ihrer Angehörigen kaum zu ertragen. „Ich spreche nicht gerne über diesen Tag, es waren die schlimmsten Stunden meines Lebens“, erinnert sich die Israelin.

Nach ihrer Rückkehr in ihren Geburtsort war Korsia schnell klar, dass sie in ihrem Kindergarten vor einer enormen Herausforderung stehen würde: Jener, den zahlreichen traumatisierten Familien nach dem 7. Oktober wieder ein Gefühl von Sicherheit zu geben.

Ihr Kindergarten gehört zu den ersten Einrichtungen, die ihre Türen in der zum Teil stark zerstörten Stadt wieder geöffnet haben. Die Nichtregierungsorganisation World International Zionist Organisation (WIZO), die durch Spenden finanziert wird, betreibt neben ihrem „Bruce und Ruth Rapport“-Kindergarten noch zwei weitere. Insgesamt werden hier 200 Kinder von 50 Mitarbeitern betreut.

„Unsere Kindergärten sind die sichersten Orte der Stadt“

„Wir waren die Ersten, die nach dem Überfall wieder öffneten. Am Anfang war es nicht leicht, viele hatten Angst. Doch unsere Kindergärten sind die sichersten Orte der Stadt: Alle drei Einrichtungen wurden so gebaut, dass sie auch als vollständige Luftschutzbunker dienen können“, erklärt Korsia.

Das bedeutet nicht nur mehr Sicherheit für Kinder und Erzieherinnen – sondern auch weniger Stress. In Sderot hat man eigentlich nur 15 Sekunden Zeit, um sich in einem Bunker zu retten. In den Kindergärten, die zugleich als Luftschutzräume dienen, ertönt dagegen bei einem Alarm Musik. Niemand muss rennen, kein Kind wird aus dem Mittagsschlaf hochgerissen. Der Kindergarten ist der Bunker.

Seit dem 7. Oktober kämpft Korsia jedoch nicht nur mit einer verschärften Sicherheitslage, sondern auch mit Personalmangel. Sie berichtetet, dass es unter den arabischen Mitarbeitern Personen gegeben habe, die den Hamas-Terror in Whatsapp-Gruppen gefeiert hätten. Seitdem sei das Vertrauen vieler Eltern erschüttert gewesen. Die Leitung traf daraufhin die Entscheidung, die Beteiligten zu entlassen. Nun fehlt Personal – eine weitere Herausforderung in einer ohnehin angespannten Situation.

Denn Sderot galt bereits vor dem 7. Oktober als die „Hauptstadt der Schutzbunker“. Die ständigen Angriffe und Raketenalarme haben verheerende Folgen: Über 75 Prozent der Kinder in Sderot zeigten in einer Studie des israelischen Trauma- und Resilienzzentrums Natal von 2008 leichte posttraumatische Symptome, knapp 50 Prozent litten demnach sogar an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober hat die Situation weiter verschlimmert – nicht nur in Sderot. In einem Bericht kommt Israels Rechnungsprüfer Matanyahu Engelman zu dem Schluss, dass das Gesundheitssystem für psychologische Hilfe stark überlastet ist. Die Hälfte der rund 15.000 im Gaza-Krieg verletzten Soldaten der israelischen Armee kämpft demnach mit psychologischen Problemen. Rund drei Millionen der Erwachsenen in Israel berichtet laut der Erhebung von Angstzuständen, Depressionen und Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Vergleich dazu sollen laut einer Studie der Tel Aviv Universität nur rund 4,5 Prozent Israelis vor dem Hamas-Angriff unter einer PTBS gelitten haben.

Hilfe bekommen längst nicht alle Menschen in dem Ausmaß, wie sie sie bräuchten. Insbesondere in Sderot ist die Bilanz laut dem Bericht des Rechnungsprüfers fatal: Nach dem 7. Oktober wurden von den 10.500 Kindern, die nach dem Überfall evakuiert werden mussten, nur 440 (4 Prozent) professionell betreut.

Die World International Zionist Organisation (WIZO) will hier ansetzen. Gemeinsam mit der Stadtverwaltung von Sderot hat die Organisation nach dem 7. Oktober das sogenannte „Offene Haus“ im Stadtzentrum eröffnet. „Seit Jahrzehnten leiden die Menschen in Sderot und der Umgebung von Gaza unter den Angriffen und Drohungen der Hamas“, sagt die Präsidentin der Organisation, Anat Vidor. „Die soziale Einrichtung soll Betroffenen helfen, mit den psychischen und traumatischen Belastungen solcher Angriffe besser umzugehen und ihre Widerstandsfähigkeit stärken.“

Regierung kann den Therapie-Bedarf nicht abdecken

Damit werden die Lücken in der staatlichen Gesundheitsversorgung zwar nicht aufgefüllt, aber zumindest kleiner. „Ohne unsere und vergleichbare Organisationen könnte die israelische Regierung den Therapie-Bedarf bei Weitem nicht abdecken“, glaubt Nicole Faktor, Präsidentin vom deutschen Ableger der Organisation, der seit 2024 in der Gemeinde Ewen Yehuda nördlich von Tel Aviv einen eigenen Campus mit besonderen Betreuungsangeboten für Jugendliche betreibt. „Der Fokus unserer Organisation liegt seit dem 7. Oktober vor allem auf der Traumabewältigung – sei es im Süden, für Evakuierte aus dem ganzen Land oder für Jugendliche in unserem Jugenddorf Hadassim“, so Faktor.

Nicht nur der Bedarf ist enorm, auch falle es vielen Betroffenen oft schwer, Hilfe anzunehmen, wie die Direktorin des „Offenen Hauses“ in Sderot, Yael Katzir (48), berichtet. Sie lebt mit ihrer Tochter in einem Kibbuz unweit von Gaza und ist damit direkt von der in Sderot allgegenwärtigen Gefahr umgeben. „Die Menschen kommen nicht gerne an einen Ort, an dem sie das Wort ‘Therapie’ hören. Einige fühlen sich dann schwach oder haben Angst, sich mit ihrem Trauma auseinandersetzen zu müssen.“

Deshalb setze man auf alternative Therapie-Ansätze: „Unser Ziel ist es, mit kreativen, sportlichen oder spielerischen Aktivitäten – zum Beispiel durch Theater, Musik oder einem Schminkkurs – Verbindung in einer Gemeinschaft herzustellen. Das kann es für Betroffene leichter machen, Traumata zu verarbeiten“, so Katzir.

Im „Offenen Haus“ in Sderot seien alle Generationen willkommen: Kinder, Mütter, Väter, Großeltern. Künftig soll es außerdem Workshops für Lehrer geben. „Sie sollen darin geschult werden, schneller posttraumatische Anzeichen zu identifizieren. Und über eine Telefon-Hotline sollen Betroffene sofort Hilfe in Krisensituationen bekommen“, sagt Katzir.

Obwohl die Menschen in Sderot wegen ihrer exponierten Lage einer besonderen Gefahr ausgesetzt sind, hoffen viele hier, dass daraus auch etwas Positives entsteht. Dass etwa die Ansätze zur Trauma-Bewältigung Schule machen – in ganz Israel.

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