Als der Prozesstag in Saal 1 des Bielefelder Landgerichts um 9 Uhr startet, ahnt Mwafak A. vermutlich noch nicht, dass es in den folgenden rund fünf Stunden für ihn weit bergab gehen wird. Dass der Tag mit drei Angeklagten beginnen und mit lediglich einem enden wird – und dass zwei schnell gemachte Handy-Videos das mögliche Strafmaß für ihn hinaufsetzen würden. „Damit dürfte Ihre Einlassung wohl widerlegt sein“, sagt der Vorsitzende Richter Carsten Glashörster in seine Richtung, als die Videos gezeigt sind. Die Einlassung von A. sei „nicht das, was man auf diesen Videos sehen kann“. Er solle „sehr, sehr gut darüber nachdenken“, ob er bei seiner bisherigen Version bleibe.

Der Prozess um den gewaltsamen Tod von Philipos Tsanis neigt sich dem Ende entgegen. Auf den 20-Jährigen war im Juni 2024 am Rande eines Abiballs in Bad Oeynhausen so schwer eingeprügelt worden, dass er zwei Tage später seinen Verletzungen erlag. Der Fall löste großes Medienecho aus. Die Ermittler werfen dem heute 19-jährigen Syrer Mwafak A. vor, die tödlichen Attacken ausgeführt zu haben. Ursprünglich waren 19 Prozesstage bis Mitte Mai angesetzt. Nun aber wird das Urteil womöglich bereits mehrere Wochen früher fallen.

Es ist einer der größten Strafprozesse des Jahres – und lange war er bei schwieriger Beweislage zäh verlaufen. Mangels Videoüberwachung am Tatort war die Kammer maßgeblich auf die Aussagen von Zeugen angewiesen, die häufig mauerten, große Erinnerungslücken offenbarten oder nachweislich logen – so inflationär, dass die Verteidigung von Mwafak A. sogar einmal versuchte, ihn per Antrag aus der Untersuchungshaft herauszuholen.

An einem Verhandlungstag Anfang März allerdings erwähnte ausgerechnet einer der unkooperativsten Zeugen beiläufig, dass es Videos von der Tat gebe. Wochen später bekam Staatsanwalt Christoph Mackel am Ende des ansonsten ereignislosen 13. Prozesstages die Information, dass die Polizei zwei Videos auf einem konfiszierten Handy wiederhergestellt habe. Nun, am 14. Prozesstag, sollen diese Videos gezeigt werden.

Philipos‘ Vater kann sich die Aufnahmen nicht anschauen

Richter Glashörster schickt voraus, dass er angesichts des brutalen Inhalts niemanden zwingen werde, sich die Videos anzuschauen. Ähnliches hatte er schon gesagt, bevor an einem früheren Verhandlungstag Fotos rund um die Obduktion von Philipos Tsanis gezeigt worden waren. Wie schon damals verlässt Philipos‘ Vater den Saal.

Das erste Video ist 27 Sekunden lang, es wird mehrfach gezeigt. Mal im Original, mal in von der Polizei bearbeiteten Versionen, in denen zur besseren Sichtbarkeit die Abspielgeschwindigkeit verringert oder die Helligkeit erhöht wurde.

Gefilmt wurde das Video auf den weitläufigen Terrassen vor dem Kaiserpalais, einer im Barockstil erbauten Event-Location im Bad Oeynhausener Kurpark. Dort findet an jenem Abend im Juni 2024 ein Abiball statt. Es ist dunkel, auf dem Boden prügeln sich zwei junge Männer – es sind der Mitangeklagte Ferdinand D. und Max A., ein Freund von Philipos.

Um sie herum stehen mehrere weitere Personen, schauen dem Kampf tatenlos zu oder feuern mit Rufen wie „Yallah!“ an. Eine männliche Person, offenbar die filmende, kreischt und lacht hysterisch angesichts der Szene. Nicht alle scheinen sich derart begeistern zu können: Ein anderer versucht, D. von A. herunterzuziehen, jemand ruft „Auseinander!“, auch ein beschwichtigendes „Jungs, chillt mal!“ ist zu hören.

Währenddessen bewegt sich ein paar Meter weiter jemand aus dem Bild heraus, verfolgt von einer weiteren Person. Diese Szene geht unter, sofern man nicht explizit darauf achtet. Die Aufmerksamkeit des Filmenden sowie der Umstehenden scheint auf die Schlägerei vor ihnen gerichtet zu sein. Für den Prozess jedoch ist essenziell, was da abseits des Fokus passiert. Denn bei dem Zurückweichenden handelt es sich um Philipos Tsanis, verfolgt von jemandem mit orangefarbener Jacke.

Und eine solche auffällige Jacke, das hatten zuvor zahlreiche Zeugen ausgesagt, soll an jenem Abend Mwafak A. getragen haben. Das weiß auch Philipos‘ Mutter, die bislang an jedem Prozesstag im Gericht anwesend war. „Da bist du ja“, sagt sie bitter von der Nebenklägerbank in Richtung des ihr direkt gegenübersitzenden Hauptangeklagten. Der reagiert nicht.

Im Video wechselt die Kameraperspektive anschließend mehrfach zwischen der Schlägerei im Vordergrund und dem – inzwischen gut zehn Meter entfernten – Geschehen um Philipos hin und her. Bei einem zweiten Schwenk liegt Philipos bereits am Boden, die Person mit der orangefarbenen Jacke beugt sich über ihn. Beim letzten Schwenk ist dort nur noch Philipos zu sehen; er bewegt sich nicht mehr.

Im Saal ist es jetzt ganz still. Nur die Lüftung und gelegentliches schweres Ausatmen aus dem Zuschauerraum sind zu hören. Einige Anwesende haben gerade die letzten bewussten Sekunden im Leben eines Angehörigen gesehen.

Für Mwafak A. hingegen könnte die Szene womöglich Jahre hinter Gittern bedeuten. Denn er hatte in seiner Einlassung gesagt, er habe Philipos zwar geschlagen und verfolgt, aber von ihm abgelassen, nachdem dieser gestolpert und bewusstlos liegen geblieben sei. Ein einzelner Sturz erklärt jedoch laut rechtsmedizinischem Gutachten nicht den Tod. Und im Video ist im Umfeld von Philipos bis auf die Person mit der hellen Jacke sonst niemand zu sehen.

Das zweite Video ist etwas kürzer und offenbar kurz nach dem ersten aufgenommen. Dieses Mal sieht man nur die Schlägerei zwischen Ferdinand D. und Max A.– allerdings wirkt nun auch Mwafak A. mit. Er tritt mehrfach auf den am Boden liegenden Max A. ein.

Besonders brisant: In der Hand hält er währenddessen eine schwarze Umhängetasche, die Philipos abgenommen wurde. Und dieses Detail könnte A. teuer zu stehen kommen.

Staatsanwaltschaft sieht Mordmerkmal erfüllt

Nach Sichtung der Videos glaubt Staatsanwalt Mackel, dass es Mwafak A. vor allem um Drogen ging. Philipos‘ ebenfalls attackierter Kumpel hatte in seiner Zeugenaussage früh im Prozess zugegeben, an dem Abend Kokain mit sich geführt zu haben. Man habe die Droge im Kurpark abseits des Abiballs gerade konsumieren wollen, als die Gruppe um Mwafak A. sie passiert und dieser sie angesprochen habe. Diese Version deckt sich mit der Einlassung von A., der angegeben hatte, das Kokain gesehen und danach gefragt zu haben. Als er rüde abgewiesen worden sei, habe er Philipos und dessen Freund ins Gesicht geschlagen. So habe die ganze Auseinandersetzung erst angefangen.

Mackel geht nun davon aus, dass es Mwafak A. vor allem darum ging, Philipos‘ Tasche an sich zu bringen, in der er fälschlicherweise weiteres Kokain vermutet habe. Mackel sieht deshalb das Mordmerkmal der Habgier erfüllt. Bislang ist Mwafak A. wegen Totschlags angeklagt. „Ich finde, was der Herr Staatsanwalt hier macht, ist ein ‚im Zweifel gegen den Angeklagten‘“, sagt Verteidiger Burkhard Benecken. Dennoch: Die Fallhöhe für seinen Mandanten ist noch einmal größer geworden.

Zumal zu Beginn der Verhandlung am Montag ein Forensiker sein Gutachten vorgestellt hatte, laut dem am Schuh von A. Blut gefunden wurde, das Philipos Tsanis zugeordnet werden könne. Die Verteidigung argumentiert hingegen, angesichts der tatsächlich geringen Menge könne es auch sein, dass das Blut durch etwas anderes als einen Tritt auf den Schuh gekommen sei – etwa durch Philipos‘ nach dem ersten Schlag blutende Nase.

Ein weiterer Rückschlag für Mwafak A.: Die Kammer kündigt an, die Verfahren gegen die beiden Mitangeklagten Nick R. und Ferdinand D. abzutrennen und einzustellen. Den beiden war vor allem vorgeworfen worden, auf Max A. eingeprügelt zu haben.

Das sei zwar keine Lappalie. Allerdings, so glaube die Kammer, wäre dieser Vorfall niemals derart hochgekocht, wenn er nicht im Kontext des Angriffs auf Philipos stattgefunden hätte. R. und D. hätten zudem etwa das Geschehen in ihren Aussagen offenbar korrekt wiedergegeben, hätten sich nach der Tat bei der Polizei gemeldet und seien bereits durch die große Aufmerksamkeit für den Fall bestraft.

Während Ferdinand D. 500 Euro Schmerzensgeld an Max A. zahlen soll, kommt Nick R. mit einer Verwarnung davon. Die Verteidigung des Hauptangeklagten hatte versucht, die Aufmerksamkeit auf R. als möglichen Verantwortlichen für den Tod von Philipos Tsanis zu lenken. Dieser Verdacht ist nun vom Gericht abgeräumt worden – von anfangs drei Angeklagten ist nur noch Mwafak A. übrig.

Benecken bemüht sich nach der Sitzung gegenüber Reportern um einen zweckoptimistischen Ausblick. Das Video sei für seinen Mandanten sicherlich „teilweise belastend“ – allerdings lasse sich nicht ausschließen, dass in den nicht von der Kamera erfassten Sekunden andere Personen als sein Mandant auf Philipos Tsanis eingewirkt hätten. Man würde sich nun mit dem Mandanten zusammensetzen und die nächsten Schritte beraten.

Dafür bleibt allerdings weniger Zeit als gedacht: Richter Glashörster will am kommenden Prozesstag – Donnerstag – nach verschiedenen Gutachten auch bereits die Plädoyers vortragen lassen.

Nachrichtenredakteur Florian Sädler schreibt bei WELT vor allem über politische Themen, darunter Migration, Extremismus und Russlands Krieg gegen die Ukraine. Nach Philipos‘ Tod berichtete er aus Bad Oeynhausen, inzwischen begleitet er den Gerichtsprozess.

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