Halligen sind grasbewachsene Flecken Erde inmitten der Nordsee. Sie sind kaum eingedeicht und werden regelmäßig überflutet. Nur die Warften, künstlich aufgeschüttete Hügel, auf denen die Häuser stehen, ragen dann noch aus dem Wasser.

Besonders Hooge, die zweitgrößte der zehn deutschen Halligen, auf der rund 100 Einwohner leben, zieht im Sommer viele Feriengäste an. Zu denen, die ihr Herz an Hooge verloren haben, gehört Jan Keith. Der Journalist schreibt seit 2018 in einer „mare“-Kolumne regelmäßig über die Hallig und hat ihr jetzt ein ganzes Buch gewidmet.

WELT AM SONNTAG: Haben Sie schon mal Land unter auf der Hallig Hooge erlebt?

Jan Keith: Ja, zweimal. Beide Male kam das Meer aber nicht mit voller Wucht, sondern nach und nach. Fast schüchtern überspülte es die Hallig, als wollte es Hallo sagen. Aber man darf sich von dieser Freundlichkeit der Nordsee nicht irritieren lassen. Es gibt auch verheerende, zerstörerische Sturmfluten.

WAMS: Welche der zehn Warften von Hooge ist die höchste?

Keith: Ich vermute, es ist die Hanswarft, Hooges Hauptwarft. Sie wurde vor einiger Zeit mit 22.000 Kubikmetern Sand verstärkt und angehoben, man nennt das „Aufwarftung“.

WAMS: Dann ist man bei Land unter in der Hanswarft am sichersten?

Keith: Man ist zumindest am höchsten über dem Wasserspiegel. Im Falle des Falles würde ich daher die Hanswarft aufsuchen, obwohl jede Warft über einen fest im Boden verankerten Schutzraum verfügt. Das ist Vorschrift.

WAMS: Wenn man so isoliert wohnt und aufeinander angewiesen ist wie die paar Dutzend Hallig-Bewohner, dürften Nachbarschaftsstreitigkeiten eigentlich kein Thema sein. Ist Hooge eine Insel der Seligen?

Keith: Mitnichten. Hier gibt es genauso viele Konflikte wie auf dem Festland. Es gibt zerstrittene Familien, die seit Jahrzehnten nicht miteinander sprechen. Der Zwist wird von Generation zu Generation weitergegeben.

WAMS: Wie furchtbar.

Keith: Hooge ist ein Abbild der deutschen Gesellschaft, nur auf kleinstem Raum. Und mein Eindruck ist: Im Notfall, wenn etwas Schlimmes passiert – ein Todesfall etwa oder ein Unfall –, hält man auf Hooge zusammen und hilft. Langweilig wird es jedenfalls nie.

WAMS: Echt jetzt, Ihnen war es dort nie langweilig?

Keith: Nein. Obwohl, einmal habe ich allein in der Bauarbeiterwohnung auf der Hanswarft übernachtet, im Winter, der Wind heulte, das Internet hakte. Da hätte ich mir Gesellschaft gewünscht.

WAMS: Beschreiben Sie doch mal einen typischen Hallig-Urlauber.

Keith: Er ist bescheiden. Auf Sylt gibt es noble Hotels, Sternerestaurants, wunderschöne Strände, hochkarätige Konzerte, High-Society-Partys. Auf Hooge gibt es nichts davon. Wer auf Hooge Urlaub macht, übt sich in Verzicht, wird aber entschädigt von einer einzigartigen Natur und Ruhe. Luxus will der typische Hooge-Urlauber ohnehin nicht. Man übernachtet in Ferienwohnungen und unternimmt Spaziergänge. Das perfekte Programm zum Entschleunigen. Aber man muss früh buchen. Die schönsten Unterkünfte sind anderthalb Jahre im Voraus ausgebucht.

WAMS: Und wie sieht es mit der Gastronomie aus?

Keith: Im Winter gibt es kein Restaurant, das geöffnet hat. Man muss sich dann selbst versorgen und im einzigen Supermarkt der Hallig einkaufen gehen. Aber das ist ja schon Luxus. Früher gab es nicht mal einen Kaufmannsladen. Damals bestellten die Hooger ihre Lebensmittel bei den Halligversorgern. Die gingen für bis zu 40 Familien auf dem Festland einkaufen und transportierten die Waren mit Frachtschiffen zur Hallig. Der Kontrast zu Sylt könnte kaum größer sein; die Sylter haben ja schon seit 1927 ihre Bahnverbindung über den Damm.

WAMS: Arrivierte Sylt-Urlauber streben nach einer eigenen Immobilie auf der Insel, gilt das ebenso für Hooge-Urlauber?

Keith: Nein, überhaupt nicht. Und selbst wenn sie eine wollten, wäre es kaum möglich. Ich habe mal aus Spaß auf einem Immobilienportal nach einer Kaufwohnung auf Hooge gesucht. Die Trefferzahl war Null. Es gibt halt nur zehn bewohnte Warften. Aber gelegentlich wird mal etwas frei, wenn ältere Einheimische ins Heim aufs Festland müssen oder versterben. Neulich hörte ich, dass gerade zwei Häuser zum Verkauf stehen.

WAMS: Gibt es auch Jobs auf der Hallig?

Keith: Nicht viele, eine Handvoll bei der Gemeindeverwaltung, beim Deichschutz, beim Gesundheitsdienst, eine Lehrerstelle, eine Pastorenstelle. Die meisten Hallig-Bewohner leben vom Tourismus. Aber man kann auf Hooge prima Homeoffice machen – die Hallig wurde kürzlich ans Glasfasernetz angeschlossen.

WAMS: Worauf warten Sie noch, oder wollen Sie nicht auf Hooge wohnen?

Keith: Persönlich könnte ich mir nicht vorstellen, auf Hooge eine Immobilie zu kaufen. Der Meeresspiegel steigt unaufhörlich, und ich befürchte, irgendwann wird Hooge unbewohnbar sein. Die Landesregierung Schleswig-Holsteins will zwar die Halligen erhalten und alle Warften auf eine sichere Höhe bringen. Das lassen sich Bund und Land bis zu 30 Millionen Euro kosten. Doch was ist eine sichere Höhe? So genau kann das niemand sagen, weil man ja nicht weiß, wie schnell der Meeresspiegel steigen wird.

WAMS: Apropos, stimmt es, dass die Flut schneller ist, als ein Mensch laufen kann?

Keith: Ja, besonders bei auflandigem Wind oder starken Strömungen kann die Flut überraschen. Priele können sich dann rasch mit Wasser füllen und den Weg zurück versperren. Deshalb sollte man das Wattenmeer nie ohne Wattführer betreten.

WAMS: Wenn man beim Wattwandern etwas findet, darf man das dann behalten?

Keith: Da sprechen Sie ein heikles Thema an. Das Watt ist tatsächlich voll mit Fundstücken, die von untergegangenen Warften zeugen. Man findet alte Münzen, Knöpfe von Trachten, zerbrochene Behälter aus verschiedenen Epochen, manche jahrhundertealt. Wer etwas Bedeutendes findet, ist verpflichtet, das den Behörden zu melden. Behalten ist verboten. Aber der normale Wattwanderer bemerkt die Kostbarkeiten in der Regel gar nicht. Da braucht man schon einen Metalldetektor – und dafür wiederum eine Lizenz.

WAMS: In Skandinavien gilt das Jedermannsrecht, Segler ankern dort, wo sie wollen. Können Privatboote auch Hooge ohne Weiteres anfahren?

Keith: Ja, in ausgewiesenen Bereichen ist Ankern vor Hallig Hooge möglich.

WAMS: Stirbt ein Seemann auf dem Meer, kehrt er als Gonger zurück, um die Nachricht seines Todes zu überbringen. Dazu steigt er nachts in der Kleidung, die er zum Todeszeitpunkt trug, aus dem Wasser und sucht seine Familie heim – das erzählt man sich heute noch auf Amrum und Sylt. Von Hooge sind mir solche Geschichten unbekannt. Sind die Insulaner nicht abergläubisch?

Keith: Zunächst mal: Hooge ist keine Insel, sondern eine Hallig. Da reagieren die Einheimischen empfindlich. Und was den Aberglauben angeht – es gibt auf Hooge einen Spukpfad. Den kann man abgehen und an den Stationen per QR-Code Geschichten hören. Nette Touristenattraktion. Das heißt aber nicht, es gäbe auf Hooge keine Geister. Zumindest, wenn man Emil Nolde glaubt.

WAMS: Jetzt bin ich aber gespannt.

Keith: Nolde verbrachte 1919 zwei Wochen auf Hooge, um zu malen. In dieser Zeit erschienen ihm seltsame, fast übersinnliche Spukgestalten, „die merkwürdigsten Wesen mit ihren Tollheiten“, wie der Maler später schrieb. Diese wilden Figuren, die er „während der Stille der Nächte, wenn nur das Rauschen des Meeres hörbar war“, sah, brachte er auf Hooge zu Papier. Seine sogenannten Grotesken gelten heute als Meilenstein seiner Kunst.

WAMS: Sind Sie schon mal nachts auf Hallig Hooge spazieren gegangen?

Keith: Nicht als Erwachsener. Aber als Jugendlicher auf Freizeitfahrt bin ich häufig mit Freunden nachts von der Backenswarft zum Anleger gegangen. Wein trinken.

WAMS: Vielleicht hat Nolde damals auch nur zu tief ins Glas geschaut?

Keith: Ob er betrunken war, weiß ich nicht, auf jeden Fall hatte er eine blühende Fantasie. Hooge war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein absoluter Künstler-Hotspot. Wer Ambitionen in Landschaftsmalerei hatte, ließ sich die Hallig nicht entgehen. Denn damals existierte noch kein Deich, Hooge war wild und – dank des ständigen Landes unter – voller blühender Halligpflanzen. Die Farbenwelt von Hooge zog die Maler dieser Zeit magisch an.

WAMS: Das ist heute nicht mehr so?

Keith: Hooge erhielt als erste Hallig eine Küstenbefestigung. Heute gibt es neben dem Steindeckwerk auch einen kleinen Sommerdeich, der die Hallig vor einer Überflutung bei leichteren sommerlichen Sturmfluten schützen soll. Ein ständiges Land unter, so wie zu Zeiten der Landschaftsmaler, gibt es nicht mehr – und damit eine weniger bunte Pflanzenwelt. Es dominiert die Farbe Grün.

WAMS: Werden Ihnen bei der Recherche für die Hooge-Kolumne Geschichten zugetragen, die Sie nicht verarbeiten, um den Halligen-Frieden zu bewahren?

Keith: Es gibt tatsächlich Themen, die ich nicht verarbeite, weil sie zu privat sind oder das Image der Hallig zu Unrecht beschädigen würden. Mir geht es in meiner Kolumne immer um den liebevollen Blick auf Hooge.

WAMS: Inwiefern könnte das Image von Hooge denn Schaden nehmen?

Keith: Es gibt immer wieder mal umstrittene Projekte. Auf der Hanswarft wurde kürzlich ein Neubau errichtet, der sogenannte MarktTreff, in dem sich neben dem Supermarkt auch die Krankenpflege, ein Treffbereich mit einer Ausstellung über die Hallig-Geschichte sowie drei Wohnungen befinden, die zum Teil als Schutzraum für die Hallig-Bewohner dienen. Dieses große, moderne Gebäude entspricht zwar den Richtlinien, aber es gab einige Hooger, die es trotzdem zu klobig, zu hoch oder einfach unnötig fanden, weil es nicht dem Charakter der Hallig entspricht. Da gab es schon einigen Streit.

WAMS: Und worüber regen sich die Hooger aktuell besonders auf?

Keith: Über das sich verändernde Klima. Es ist halt nicht damit getan, dass Hooge einen Deich hat und die Warften nun verstärkt werden. Mittlerweile kommen die Land unter früher, oft schon im Spätsommer, wodurch die Brut kaputtgeht. Das hat massive Auswirkungen auf den Lebensraum. Aber es sind auch ganz praktische Probleme, die sich ergeben. Im Spätsommer befindet sich noch Vieh auf den Wiesen Hooges. Wenn so früh im Jahr das Land überspült wird, müssen die Hooger spontan in der Lage sein, 500 Stück Vieh auf die Warften zu verteilen.

WAMS: Klingt dramatisch.

Keith: Ja, diese Massenevakuierung zu organisieren und dafür genug Freiwillige zusammenzutrommeln, ist ein Kraftakt. Das bereitet den Menschen echte Sorgen.

WAMS: Gibt es Hooger, die wegen des Klimawandels ihre Hallig verlassen wollen?

Keith: Die Alteingesessenen bleiben, da gibt es keine Zweifel, aber ihnen macht ein neuer Trend zu schaffen. Wenn junge Leute nach Hooge kommen, ziehen sie oft nach zwei, drei Jahren wieder weg. Die Zeiten, in denen ein Lehrer für 30 Jahre blieb oder ein Pastor für zehn, sind vorbei. Es gibt keine Verlässlichkeit mehr, die vielen Hooger Vereine können kaum noch langfristig planen. Aber wie ich die Hooger kenne, lassen sie sich von diesem „Alles-ist-unverbindlich“-Zeitgeist nicht unterkriegen. Dafür sind sie zu stark und zu stolz.

Nordsee-Liebhaber Jan Keith:

Er wurde 1971 geboren, reiste als Teenager acht Jahre hintereinander nach Hooge, später studierte er Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn. Seine Liebe zum Meer führte ihn zur Zeitschrift „mare“, wo er seit 2008 als Redakteur arbeitet. Sein Buch „Meine Hallig Hooge“ ist gerade erschienen bei Mare, es hat 160 Seiten (mit Illustrationen von Orlando Hoetzel) und kostet 20 Euro.

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