Auf eigene Faust durch den Moloch Mumbai – geht das?
Ein Kuhhirte treibt seine Herde eine Hauptverkehrsstraße entlang. Ein in Orange gehüllter Priester führt einen Affen spazieren. Ein Viehhändler hackt einem gackernden Huhn den Kopf ab und stößt den Torso auf eine altmodische Balkenwaage. Ein eigentlich unscheinbarer Hauseingang ist von rosagelbem Tuch eingefasst, davor versammelt eine vielköpfige Hochzeitsgesellschaft, ein Meer gestärkter Hemden und farbenprächtiger Saris. Wer Mumbai bereist, wird sich zuweilen wie in einem Wimmelbild vorkommen. Auf den Straßen der zweitgrößten Metropole Indiens, die mehr als 20 Millionen Einwohner zählt, herrscht rund um die Uhr lärmendes Treiben.
Die Fortbewegung innerhalb Mumbais ist denn auch eine Herausforderung, weil der Verkehr heillos chaotisch ist: Überall quäkende Tuk Tuks, hupende Autos, buntbemalte Lkw, quietschende Ochsenkarren, gestresste Fußgänger, unzählige Motorroller, herumtrottende heilige Kühe – alle ringen miteinander um jeden Quadratzentimeter Asphalt.
Kein Wunder, dass man auf Mumbais Straßen sehr langsam unterwegs ist. Für Touristen gibt es dennoch eine gute Möglichkeit, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden: mit dem Zug. In der gesamten Metropolregion verkehren die Bahnen der Mumbai Suburban Railway, ein hunderte Kilometer langes Schienennetz verbindet die Vororte mit dem Zentrum.
Die Vorortsbahnen sind das mit Abstand schnellste Fortbewegungsmittel in einer Stadt, in der man zur Stoßzeit mit durchschnittlichen 8 km/h unterwegs ist, wenn man Auto fährt. Außerdem sind die Züge günstig und bringen Reisende an sehenswerte Orte im gesamten Stadtgebiet. Vor allem aber bieten sie spannende Einblicke in den Alltag von Millionen Menschen, die in den Vorortsbahnen zur Arbeit pendeln, stundenlang, jeden Tag aufs Neue. Die Mitfahrt lohnt sich also – doch wer sich entscheidet, Mumbai per Bahn zu erkunden, muss einiges beachten.
Während der Fahrt stehen die Türen der Züge offen
Zunächst einmal: Ohne einheimische Begleitung sollten die Stoßzeiten unbedingt gemieden werden. Zwischen 7 und 10 Uhr morgens Richtung Zentrum sowie zwischen 17 und 21 Uhr abends in die Gegenrichtung sind die Züge so voll, dass man seine körperliche Unversehrtheit riskiert.
Die Waggons sind dann derart überfüllt, dass sich im Schnitt 16 Menschen einen Quadratmeter teilen. Und das, obwohl die S-Bahnen im Dreiminutentakt fahren und hunderte Meter lang sind. Die Leute hängen dann aus den fahrenden Waggons, klammern sich an die Türrahmen, halten eisern die Regenrinnen oder einen der vielen Griffe.
Während der gesamten Fahrt stehen die Schiebetüren der Waggons sperrangelweit offen und ermöglichen einen schnellen Aus- und Zustieg. Schon während die S-Bahn bremst, springen Passagiere aus den Türen auf den Bahnsteig, um später nicht bis zum Ausgang ihrer Wahl zurücklaufen zu müssen. Der Einstieg erfolgt schnell und ruppig, die Wartenden drängen unter Geschrei und Ellenbogeneinsatz in die Wagen. Für Touristen gilt, gebührenden Abstand zu den offenen Türen zu wahren.
Außerhalb der Stoßzeiten ist das problemlos möglich. Doch selbst dann kann es voll werden. Wer also mehr Platz möchte, kann für den sechsfachen Preis ein Ticket für die erste Klasse kaufen. Die Normalstrecke kostet dann umgerechnet 67 Cent, statt der üblichen 11. Mehr Sitzkomfort wird nicht geboten, die Waggons sind mit den gleichen harten Holz- oder Plastikbänken ausgestattet wie die zweite Klasse. Doch durch den Aufpreis geht es hier etwas ruhiger zu.
Der S-Bahn-Verkehr fordert viele Todesopfer
Passagiere, die sich aus fahrenden Zügen hängen, sind übrigens kein Stoßzeitphänomen. Viele Inder tun dies auch in leeren Waggons: Zu erfrischend der Fahrtwind, zu aufregend der Adrenalinrausch. Studenten stehen grinsend und mit Musik auf den Ohren an den Türen, Teenager stacheln sich zu riskanten Kunststücken an, surfen an den beschleunigenden Zug geklammert über den Bahnsteig, klatschen vorbeirasende Brückenpfeiler und Strommasten ab oder reißen bei voller Fahrt die Blätter ins Gleis ragender Palmen herunter.
Oft genug geht das schief, der S-Bahn-Verkehr fordert, vor allem wegen der stets offenen Türen, zahllose Todesopfer: Mehr als 3000 sind es jedes Jahr. Viele werden beim Übertreten der Gleise überfahren, Pendler stürzen bei 100 km/h im Gedränge aus den Türen in den Tod oder werden von vorbeihuschenden Signalmasten geköpft. Vom Trittbrettfahren ist also unbedingt abzuraten.
Weiteres Problem: Ein komfortabler Ticketkauf über das Internet ist den Inhabern indischer Bankkonten vorbehalten – Urlauber müssen sich entweder mühsam am Schalter anstellen oder, etwas einfacher, Tickets an den kantigen, orangefarbigen Fahrkartenautomaten kaufen, die an jeder Station zu finden sind. Leider sind sie oft gut versteckt, außer Betrieb oder sie befinden sich in verschlossenen Serviceräumen. Außerdem wird nicht mit Bargeld, sondern mit einer sogenannten Smart Card gezahlt, die sich mit Guthaben aufladen lässt und lediglich an den Bahnhöfen Dadar oder Churchgate erhältlich ist.
Die nächste Hürde ist es, das richtige Gleis zu finden. Denn die Bahnsteige sind hunderte Meter lang und durch ein Labyrinth unübersichtlicher Fußgängerüberwege verbunden. Durchsagen und Anzeigetafeln sind voller kryptischer Abkürzungen und nicht intuitiv verständlich. Hier hilft freundliches Fragen, die Einheimischen helfen in der Regel gern weiter. Falls nicht, gibt es die App mIndicator, die Routen und Abfahrtszeiten anzeigt. Denn nicht alle Züge halten an jeder Station, Expressbahnen überspringen kleinere Haltepunkte, um die Vororte schneller zu erreichen.
Für reisende Frauen gibt es in Mumbai einen großen Vorteil: spezielle Frauenabteile, von denen jeder Zug mehrere hat. Die Mitfahrt für Männer ist hier strengstens verboten. Die „Ladies Compartments“ wurden eingeführt, um weiblichen Passagieren unerwünschte Körperkontakte, vor allem grapschende männliche Mitreisende, vom Hals zu halten.
Empfehlenswerte Ausflugsziele mit dem Zug
Wer die Wirrnisse der Lokalbahnen nicht als Ärgernis, sondern als Abenteuer begreift, wird schnell Gefallen an den urigen Zügen finden. Und wohin fährt man am besten? Wer zum Beispiel die alten Kolonialbauten im Zentrum erkunden will, nimmt eine der beiden Hauptlinien bis zu den südlichen Endstationen, steigt entweder in Churchgate oder am Chhatrapati Shivaji Terminal aus, einem prächtigen Bahnhof im viktorianischen Stil.
Die umliegenden Viertel sind von Relikten kolonialer Baukunst geprägt, etwa dem Gebäude der Stadtverwaltung, dem Obersten Gerichtshof oder dem Gateway of India, einem gewaltigen Torbogen am Indischen Ozean, der als Willkommensgruß für Georg V. gedacht war, als dieser sich nach seiner Krönung erstmals anschickte, die ihm untertane Kolonie zu besuchen.
Dank der S-Bahnen kann man einigermaßen bequem auch interessante Orte besichtigen, die weiter vom Zentrum entfernt sind. Nahe der Station Parel etwa befindet sich der strahlend weiße, vielgliedrige Siddhivinayak-Tempel, der dem Elefantengott Ganesha gewidmet ist. Noch weiter nördlich, in Borivali, thront die buddhistische Vipassana-Pagode mit ihrer vergoldeten Kuppel auf einer mangrovenbewachsenen Halbinsel am Ozean.
Und wer Mumbai zu staubig, laut und nervig findet, kann Matheran besuchen, einen Kurort östlich der Stadt, gelegen auf einem Bergplateau, fast 1000 Meter über der Stadt. Die Engländer suchten hier einst Erholung von der heißfeuchten Talluft, heute ist Matheran ein beliebtes Ausflugsziel der städtischen Mittelschicht. Das autofreie Dörfchen, in dem als einziges Transportmittel Pferde vorgesehen sind, ist über den Bahnhof Neral zu erreichen, mit anschließender Fahrt im Sammeltaxi.
Arm und Reich leben in Mumbai eng zusammen
Wer Indiens religiöse Vielfalt hautnah erleben möchte, steigt an den Bahnhöfen Khar Road oder Bandra aus. Hier kommt man innerhalb weniger Minuten an katholischen Kirchen, Moscheen und knallbunten Hindutempeln vorbei.
Läuft man in Bandra bis zur Küste und flaniert auf der mondänen Promenade am Ozean entlang, begegnet man mit etwas Glück Bollywoodstars oder wird spontan für Filmdrehs gecastet – für in Europa spielende Szenen werden häufig weiße Statisten gebraucht. Einen Bollywoodfilm sollte man sich ohnehin einmal im Kino anschauen.
Es lohnt sich auch, am Marine Drive oder in Masjid auszusteigen. Hier kann man hautnah erleben, wie Arm und Reich in Mumbai in beklemmender Nähe mit- und nebeneinander existieren. An den Kreuzungen sieht man zum Beispiel wartende Porsches neben klapprigen, obstbeladenen Handkarren. Man kann Menschen beobachten, die am Laternenpfahl angepflockte Ziegen kaufen und bargeldlos per QR-Code bezahlen.
Und wer in Andheri West oder Kurla die turbulenten Verkehrsmagistralen verlässt und in die Seitenstraßen abbiegt, gerät in ein Labyrinth immer schmaler werdender Gassen. Irgendwann kommen nicht mal mehr Motorräder durch, der schmale Streifen Himmel ist von dicken Kabelbündeln und trocknender Wäsche zerschnitten. Und selbst von diesen Gässchen zweigt noch ein mehrdimensionales Gewirr aus Treppen, Tunneln und Gängen ab, verbindet die winzigen, unreguliert gewucherten Wohnungen miteinander.
Führungen für Touristen durch den Slum
Der Grund für die allgegenwärtige Enge: Mumbai, gelegen auf einer Halbinsel, platzt aus allen Nähten und kann sich nicht ausbreiten. Wohnviertel werden deshalb bis zur Absurdität komprimiert.
Bestes Beispiel dafür ist der Dharavi-Slum, über die Bahnstation Sion zu erreichen. Hier leben mehr als eine Million Menschen auf engstem Raum zusammen. Durch Dharavi werden täglich touristische Führungen angeboten, organisiert von seinen Bewohnern. Sie möchten Klischees zerstreuen und Einblicke in ihren Alltag geben. Sie wollen zeigen, dass das Leben hier zwar hart und bescheiden ist, aber nicht automatisch schlecht.
Am Ende ist es egal, an welcher der 150 Lokalbahn-Stationen man aussteigt. Überall wird klar: Mumbai ist unvorstellbar gegensätzlich, kulturell sehr reich, oft bitterarm, immer krass und aufregend. Hauptsache, man hält sich in den Waggons gut fest. Und ruft sich im Ernstfall ein Taxi, wenn die Züge mal wieder so voll sind, dass man nicht hineinkommt. Außer man will unbedingt ausprobieren, wie es sich anfühlt, beim Heraushängen aus der Zugtür mit einem Strommast zu kollidieren.
Tipps und Informationen:
Anreise: Lufthansa und Air India bieten tägliche Direktflüge von Frankfurt und München nach Mumbai an.
Unterkunft: Für Budgetreisende empfiehlt sich das „Hammock Hostel“ in Bandra, unweit von der Uferpromenade gelegen, man schläft für umgerechnet 20 Euro im Schlafsaal, mit Frühstück (hammockhostels.com). Solideren Standard und geräumige Zimmer im Zentrum bietet das „Hotel Lords“ in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof, DZ/F ab 80 Euro (hotel-lords.mumbaihotel.net). Luxus bietet das „Taj Mahal Palace“, gelegen im Stadtzentrum, erbaut im Kolonialstil; Spa, Pool und Frühstücksbuffet im Preis inbegriffen, DZ ab 335 Euro (tajhotels.com).
Auskunft: Detaillierte Informationen zur Benutzung der Local Trains in englischer Sprache: zolostays.com/blog/mumbai-local-trains-101-a-complete-beginners-guide/. Offizielle Tourismus-Website: maharashtratourism.gov.in/districts/mumbai-city/
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