Eine Tour durch Buenos Aires in Zeiten von Milei
Flo Rodriguez rührt in ihrem Cappuccino, wir sitzen im „La Poesia“, einer Bar Notable, das ist eines der berühmten, altmodischen Kaffeehäuser von Buenos Aires. Der Cappuccino kostet knapp fünf Euro. Es sei ihr ein Rätsel, sagt die Mittzwanzigerin, wie die Argentinier sich diese Preise überhaupt noch leisten könnten. Vor allem im historischen Viertel San Telmo reichen die Preise an die in den touristischen Regionen Europas heran – was angesichts des argentinischen Haushaltseinkommens pro Kopf von umgerechnet etwa 375 US-Dollar ausgesprochen teuer ist.
Wie also kommen die Menschen in Buenos Aires damit klar? Die Frage soll ein Rundgang durch die Stadt mit einigen Gesprächen beantworten. Und was bedeutet Javier Milei für den Tourismus? Der neoliberale Politiker wurde im November 2023 zum Präsidenten gewählt.
Er schaffte es immerhin, die Inflationsrate von damals über 200 Prozent auf nun unter 100 Prozent zu drücken, bei sinkenden Realeinkommen und einer Aufwertung des Pesos. So wurde Argentinien für internationale Reisende deutlich teuer, im zweiten Halbjahr 2024 ging die Zahl touristischen Übernachtungen um 20 Prozent zurück.
Happige Preise in Buenos Aires‘ Viertel San Telmo
Das Leben sei unter diesen Bedingungen schwierig, sagt die Argentinierin Rodriguez. „Vor drei Jahren bin ich im Monat mit etwa 300 Dollar ausgekommen – jetzt brauche ich 2000.“
Wir spazieren durch San Telmo, ein zauberhaftes Viertel in Buenos Aires mit kleinen Häusern aus dem 19. Jahrhundert, Kopfsteinpflasterstraßen und dem Mercado de San Telmo von 1897. Die Aushänge der Restaurants zeigen das Preisniveau, ein Hähnchen-Sandwich kostet umgerechnet happige zwölf Euro, Choripán, ein herrlich fettiges Wurstbrötchen mit der Kräutersoße Chimichurri gut zehn Euro, Tortillas gibt es ab acht Euro, ein Glas Wein für fünf Euro aufwärts.
Und auch im Supermarkt ist nichts günstig: Zwei Bananen und eine Mango kosten knapp fünf Euro, ein simpler Joghurt zwei Euro. Und reduzierte T-Shirts aus knisterndem Plastik kosten immer noch 15 Euro.
An Straßenkreuzungen stehen Menschen und rufen emotionslos „Cambio! Dollares!“ Doch niemand hält an zum Geldwechseln. Kein Geldautomat ist zu finden, der Pesos ausspuckt, weil zehn Euro über 11.000 Pesos wären und solche Stapel von Scheinen nicht nachgefüllt werden können.
Warum so viele Javier Milei wählten
Flo zückt ihr Smartphone, liest eine Nachricht und fragt, ob noch Zeit sei für einen Besuch bei einem Freund, der wohne in einem historischen Haus. Nichts wie hin!
Das Jugendstilhaus begrüßt Besucher mit Glasfenstern, geschwungenen Kronleuchtern und einer modernen Kopie des weltberühmten Gemäldes Las Meninas von Velázquez. Im Hintergrund des Gemäldes hat sich der Hausherr, der ehemalige argentinische Kultursekretär, verewigt: Jorge Coscia, Kinokritiker, Staatssekretär, Maler, viele seiner Bilder hängen an den Wänden, seine Bücher stehen in den Regalen.
Gemietet hat es ein junger Mann, Salvador Lloveras, er verschwindet gleich in der Küche, unbedingt müsse gemeinsam Mate getrunken werden. Bald geht das bauchige Trinkgefäß mit dem Metallhalm herum wie eine Friedenspfeife. Ein offenes Haus wolle er führen, den Palazzo mit Leben füllen.
Warum so viele Argentinier Milei gewählt haben, er erzielte über 55 Prozent der Stimmen, erklärt Lloveras so: „Aus Protest: All die Anti-Peronisten können auf keinen Fall links wählen.“
Flo ergänzt, den Menschen sei es schlecht gegangen. „In Europa sind die Länder gut organisiert, auf dieser Basis sind linke Ideen attraktiv. Aber in Argentinien gibt es keine funktionierenden Strukturen, unter den Linken gab es keinen wirtschaftlichen Fortschritt.“ Den verspreche man sich von Milei, sagt sie und fügt einen Satz wie von Bertolt Brecht an: „Wie kann man über Menschenrechte sprechen, wenn man kein Geld in der Tasche hat?“
Urlaub in Argentinien ist vielen zu teuer
Lloveras verdient sein Geld im Internet, er kreiert digitale Kunstwerke, die er verkauft, investiert in Kryptowährungen. Deutlich sei in der Stadt zu sehen, dass die digitalen Nomaden, die vor ein paar Jahren in Scharen gekommen waren, sich Argentinien nicht mehr leisten könnten, sagt er.
„Sie sind in die Nachbarländer weitergezogen“ – dort, wo nun auch Argentinier Urlaub machen, weil das eigene Land zu teuer geworden ist. Er seufzt. Hass-Reden hätten zugenommen, vor allem gegen Menschen aus der queeren Gemeinschaft. Die Gesellschaft sei politisiert.
Das zeigt jeder Spaziergang in Buenos Aires. Viele Murals und Graffiti verunglimpfen Milei. Und wer donnerstags zur Plaza de Mayo geht, trifft noch immer die Mütter, die nach den während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschwundenen Männern und Söhnen suchen.
Ein Van fährt vor, die Frauen mit den weißen Kopftüchern steigen aus. Zu den Plakaten mit Fotos der Vermissten, dem Aufruf, den gestohlenen Kindern ihre Identität zurückzugeben und endlich die Archive zu öffnen sind, sind Transparente mit Parolen wie „Das Fehlen von Arbeit ist ein Verbrechen“ hinzugekommen.
Jetzt sei aber Schluss mit der Politik, sagt Lloveras, greift nach seiner Gitarre und spielt seinen Lieblingstango. Mit zartem Schmelz in der Stimme und schmachtendem Blick singt er „Nada“.
Um danach zu grinsen und zu sagen, das Glücksempfinden der Argentinier sei trotz aller Widrigkeiten weiterhin hoch. „Das ist unabhängig vom Einkommen. Man organisiert sich, richtet sich ein, man denkt nicht so viel ans Geld, lebt in der Gegenwart.“ Und nun solle ich mir Palermo ansehen, in diesem Viertel seien noch immer viele Touristen unterwegs.
Leben nach der argentinischen Methode
Tatsächlich, hier ist es nicht so altmodisch gemütlich wie in San Telmo. In Palermo finden sich die hippen Läden, die coolen Cafés, Verkaufsstände auf dem Kunsthandwerkmarkt. Die Wahrheit ist aber auch: Dort sieht es aus wie überall auf der Welt in den angesagten Vierteln mit Flat White und Quinoa-Bowls auf den Speisekarten. Und was der Kunsthandwerkmarkt feilbietet, könnte auch in Barcelona oder Rom verkauft werden.
Eine Verkäuferin sagt, ihren Schmuck bekomme sie kaum noch los. Sie selbst lebe im Sommer in Berlin. Wenn sie hierher zurückkomme, stopfe sie den Koffer voll mit Mitbringseln. Für ihre Mutter packe sie vor allem Gewürze ein. „Die kosten in Berlin einen Bruchteil im Vergleich zu hier.“
Aber resignieren will auch diese junge Frau nicht. Stimmt schon, es sei alles nicht einfach, aber sie lebten hier eben nach der argentinischen Methode: Die ersten beiden Wochen im Monat geht man aus, geht essen, genießt das Leben. Die restlichen zwei Wochen gibt es nur Reis.
Tipps und Informationen:
Anreise: Flüge von Frankfurt nach Buenos Aires etwa mit der Lufthansa, mit Iberia über Madrid oder mit Air Canada über Toronto.
Unterwegs: G Adventures hat mehrere Argentinien-Reisen mit Aufenthalten in der Hauptstadt im Programm, z.B.: gadventures.com/trips/buenos-aires-to-rio-de-janeiro-tour/10339/, ab etwa 2400 Euro, ohne Flug. Die Deutsche Simone Glöckler bietet individuelle Stadtführungen durch Buenos Aires an, Preise nach Absprache: argentinien24-7.com/city-tour-buenos-aires/.
Weitere Auskünfte: Über Buenos Aires: visitbue.com, über Argentinien: argentina.travel/en
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von G Adventures. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit.
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