Um exakt 17.43 Uhr beginnt an diesem Tag in Essaouira an der marokkanischen Atlantikküste das blaue Wunder. Die Sonne, die hier mehr als 300 Tage im Jahr vom Himmel gleißt, ist wenige Augenblicke zuvor im Westen hinter Horizont und Ozean abgetaucht. Doch noch ist es eine Dreiviertelstunde lang keineswegs nachtfinster, sondern dämmrig – der halblichte Schimmer der Tageszeit zwischen Nachmittag und Abend liegt über der Stadt. Es ist L’Heure Bleue: die Blaue Stunde.

An der zwei Kilometer langen Strandpromenade der 85.000 Einwohner zählenden Stadt, bis 1956 Mogador genannt, sitzen jetzt verschleierte Frauen auf Steinbänken, schauen sinnierend gen Meer und auf die vorgelagerten Purpurinseln, schon in der Antike berühmt für ihre Purpurschnecken, mit deren rotem Pigment die alten Phönizier und Römer kostbarste Gewänder färbten.

Ein paar Schritte weiter spielen Jungs grölend Fußball, muskelbepackte Jungmannen zeigen ihr Können am Reck zu Hip-Hop aus dem Gettoblaster. Eine kleine Kamelkarawane zieht vorbei. Fledermäuse flattern geräuschlos durch die Luft. Reife Herrschaften flanieren in Dschellaba, der traditionellen marokkanischen Ganzkörperkutte, und Babouches, Schlappen, gemächlich von hier nach da und wieder zurück. Andere sind westlich gekleidet in langer Hose, Windjacke, Sneakers.

Vom Hafen und aus den Straßenrestaurants wabert das Aroma von geröstetem Fisch in die Nase. Die Straßenlaternen auf Essaouiras Vorzeigeboulevard tauchen alles passenderweise in cyanfarbenes statt kaltweißes Licht. Man macht hier gerne blau. L’Heure Bleue – das ist der subtile Schwebezustand zwischen Tag und Nacht, die Umschreibung einer eigenartigen Aura und eines magisch-melancholischen Lebensgefühls, das an vielen Stellen Eingang in Literatur und Kunst gefunden hat.

Sie sei „die kostbare halbe Stunde vor dem Abendessen“, wie der schottische Schriftsteller Alexander McCall Smith in einem seiner Afrika-Romane schreibt, „jene Zeit des Halblichts, wenn die letzten Vögel des Tages ihren Weg zurück in die Bäume finden, wenn die Luft stillsteht und unser Menschenwerk getan ist“. Paul Bowles wiederum, aus New York stammender Literat, der den längsten Teil seines Künstlerlebens in Marokko verbrachte, spricht vom „blauen und leeren und perfekten Himmel“ zu dieser Tageszeit, „in den die Zeit fällt wie ein Stein in einen Abgrund“.

Anders als sensible Gemüter aus der westlichen Welt kann manch Marokkaner mit dem blauen Wunder am frühen Abend allerdings nicht allzu viel anfangen. „Nie davon gehört“, sagt Stadtführer Zouhir „Zouzou“ Mohamed, ein aus der Wüstenstadt Ouarzazate stammender Berber Anfang 50. Er grinst dabei, denn von einem mystisch-religiösen Aspekt dieser ätherischen Dämmerung weiß auch er zu berichten. Es sei die Tageszeit, „wenn Satan, der Teufel, den Engeln nichts Böses antut“. Was ebenfalls poetisch und trefflich klingt und womöglich exakt dasselbe sagen will, nur anders.

In Essaouira herrscht eine entspannte Atmosphäre

In Marokko hat sich unter den großen Städten eine Art Aufgabenverteilung herauskristallisiert. Rabat, das ist die politische Hauptstadt, die Fünf-Millionen-Metropole Casablanca ist die Kommerz-Kapitale. Fes ist Zentrum der Religion, Marrakesch die Touristen-Hochburg, Tanger im Norden wiederum hat Hafen und Handel.

Und Essaouira, die blaue Stadt am Meer, drei Autostunden westlich von Marrakesch gelegen? Die gilt als Refugium für Künstler, Exzentriker, Aussteiger und schräge Hippies aus dem Abendland, die hier seit den 1960er-Jahren aufschlugen, darunter Berühmtheiten wie Jimi Hendrix. Heute hat der pittoreske Ort, der westlichste Zipfel der historischen arabisch-muslimischen Welt, quasi der Wilde Westen des Orients, auch unter Windsurfern einen Ruf wie Donnerhall.

Ein Schmelztiegel der Kulturen war Essaouira allerdings schon immer. Nach Phöniziern und Römern schlugen hier Vandalen, Portugiesen und Araber auf. Dabei fungierte die Hafenstadt als Handelsvorort der im Landesinneren liegenden Königsstadt Marrakesch, mit der sie wirtschaftlich und kulturell eng verbunden war. Hier lag jahrhundertelang das Ziel von Karawanen aus Timbuktu im Herzen der Sahara, beladen mit Elfenbein, Gold und anderen Kostbarkeiten.

Im 15. Jahrhundert flüchteten sephardische Juden von der iberischen Halbinsel nach Nordwestafrika – mit der Folge, dass noch um 1900 die Hälfte der Bevölkerung Essaouiras jüdisch war, von denen fast alle allerdings Mitte des 20. Jahrhunderts nach Israel auswanderten. Und dann natürlich die Kolonial-Franzosen, die den Großteil Marokkos von 1912 bis zur Unabhängigkeit des Landes 1956 als „Protektorat“ verwalteten.

Dieses in der Tiefe der Geschichte verankerte Multikulti sorgt in Essaouira noch heute für eine entspannte Atmosphäre: unaufgeregtes Leben-und-leben-lassen abseits massentouristischer Hektik, ein idealer Ort, um für ein paar Tage zu entspannen, sich treiben zu lassen. Die Medina mit ihren blau-weißen Häusern, die dank der historischen und kulturellen Rolle der Stadt als Schmelztiegel der Kulturen seit 2001 auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes steht, lässt sich bequem zu Fuß in einer Stunde durchwandern.

Noch immer ragen hier imposante Stadtmauern und Wehranlagen, weitgehend intakt, gen Himmel. Was erklärt, warum Essaouira in der dritten Staffel der Erfolgsserie „Game of Thrones“ die Kulisse für die fiktive, vage mittelalterlich anmutende Stadt Astapor abgeben durfte. Alles so herrlich original und authentisch hier.

Marrakesch hat sich gewandelt

Das gilt selbst für die touristisch gepolte Nachbarstadt Marrakesch, in der so gut wie jeder Essaouira-Reisende ebenfalls Station machen dürfte, allein schon wegen der Nähe. Noch vor einer Generation war Marokkos Fremdenverkehrshauptquartier als „Marra-Cash“ verrufen, vor allem Djemaa el Fna, der zentral gelegene Platz der Millionenstadt, ebenfalls Weltkulturerbe.

Er diente in alter Zeit als Hinrichtungsstätte, ist heute als Hort der Geschichtenerzähler, Gaukler, Schlangenbeschwörer, Musikanten und Tänzer berühmt – sowie als eine Art Fressgasse, auf der sich Einheimische wie Besucher in Open-Air-Lokalen an frischen Obstsäften und Süßigkeiten wie Kaab el Ghazal, Gazellenhörnern, laben. Oder auch, je nach Heißhunger, an Schnecken in Safranbrühe, Couscous, einer deftigen Tajine, dem Schmortopf der hiesigen Küche, oder einem (gewöhnungsbedürftigen) gegarten Schafskopf zum Abknabbern.

Jahrelang war die Altstadt unrühmlich verdreckt. Händler, Fake-Touristenführer und Scharlatane gerierten sich irritierend, aufdringlich, übergriffig – für ausländische Besucher war das oft eine ziemlich unangenehme Urlaubserfahrung. Noch vor wenigen Jahren zog die Mehrheit das Fazit: einmal und nie wieder, vielen Dank.

Doch die Stadt hat sich in doppelter Hinsicht von Grund auf gewandelt. Zum einen haben die Behörden durchgegriffen und Händler und Wirte angehalten, Besuchern nicht auf die Nerven zu gehen. Zum anderen parliert heute fast das gesamte touristisch erschlossene Marokko Englisch, während noch zur Jahrtausendwende ohne Französisch oder natürlich Arabisch so gut wie nichts ging in Sachen Kommunikation.

Diesen Wandel mag nicht jeder begrüßenswert und „authentisch“ finden, er erleichtert Reisenden aus dem Ausland den Aufenthalt aber ungemein. Beides hat dazu beigetragen, dass Marokko 2024 mit 17,4 Millionen Besuchern zum wichtigsten Reiseziel ganz Afrikas aufgestiegen ist, vor Ägypten und mit inzwischen mehr als doppelt so vielen Gästen wie Südafrika.

Savoir-vivre auf den Dächern in Marokko

Aber zurück zum Blau, zur L’Heure Bleue, der besinnlichsten aller Tageszeiten, zu der man idealerweise hoch hinausstrebt – und Marokko aufs Dach steigt. „Vor ein paar Jahren ging das hier los mit den Dachterrassen“, sagt Zouzou. „Natürlich schlafen wir im Sommer eh da oben, weil es kühler und angenehmer ist.“

Aber jetzt wolle jedes Lokal, jedes Hostel eine Plattform oben auf dem Gebäude für Gäste haben, Marokko erlebt einen Rooftop-Boom. Klar, das liegt auch an den schönen Aussichten, in Marrakesch auf das schneebedeckte, an die 4000 Meter hohe Atlasgebirge in der Ferne, in Essaouira auf das Meer und die Inseln des Purpurs im Dämmerlicht vor der Küste.

Der schönste Ort für eine kultivierte Blaue Stunde samt Sundowner in Essaouira ist die Dachterrasse einer geschichtsträchtigen Herberge mit dem treffenden Namen „Heure Bleue Palais“, einst eine Herberge für Reisende, später Gouverneurspalast, dann Waisenhaus, schließlich ein nobles Hotel. Dieser „Palast der Blauen Stunde“ ist dem Baustil nach ein Riad, wörtlich „Garten“, was in der Regel ein großzügiges Wohnhaus mit begrüntem Innenhof meint, typisch für Marokko. Riads sind nach außen abgeschottet, haben allenfalls winzige Fenster, um das Innere des Gebäudes im Sommer möglichst kühl zu halten; nach innen und oben, gen Himmel, sind sie offen.

In Marrakesch, das allein um die 1000 Riads zählen soll, ist mehr Dach-Savoir-Vivre denn je. Auf der des traditionsreichen, mehr als 100 Jahre alten „Café de France“ geht die Aussicht auf die kurzweilige Straßenbühne des Djemaa el Fna, jene des zünftigen Restaurants „Mythe“ auf den trubeligen Basar. In der „Villa des Orangers“, ein Riad mit Orangenbäumen in den Höfen, haben die Zimmer sogar eigene private Dachterrassen mit Blick auf das 77 Meter hohe Minarett der Koutoubia-Moschee aus dem zwölften Jahrhundert, einer der berühmtesten des muslimischen Kosmos.

In den jüngeren, erst während der französischen Kolonialzeit außerhalb der Medina hochgezogenen Stadtteilen Gueliz und Hivernage geht es zur Dämmerstunde wiederum zeitgenössischer, moderner zu. „Nobu“ etwa, ein Bling-Bling-Lokal, an dem US-Schauspieler Robert De Niro beteiligt ist, steht bei jüngeren Vertretern von Jetset und Jeunesse dorée hoch im Kurs, die sich rund um den Dachpool in Lounge-Sesseln fläzen, an ihren Erfrischungsgetränken nippen und blaumachen: sehen und gesehen werden auf Höchstniveau.

Passende Cocktails für die Blaue Stunde sind zum Beispiel ein fruchtiger Malibu Sunset auf Rumbasis oder ein Summer Sun mit Gin und Limette. Und was immer und überall geht, ist das klassische alkoholfreie Erfrischungsgetränk Marokkos, Thé à la menthe: kräftiger grüner Gunpowder-Tee aus China, gepimpt mit frischer Minze und reichlich Zucker.

Gegen halb sieben, die Gläser sind geleert, ist es dann aus mit der Poesie des Dämmerlichts. Und nun? Am besten ab in eines der zünftigen Fischlokale am beleuchteten Strandboulevard von Essaouira und schönen Abend noch – im Wissen, dass auch der nächste Tag wieder ein blaues Wunder bereithalten wird.

Tipps und Informationen:

Reisezeit: Ideal sind die Monate März bis Mai und September/Oktober. Sommer sind in Marokko heiß, im Landesinneren (z. B. Marrakesch) erreichen die Temperaturen dann oft 40 Grad. Die Winter sind kühl, in küstennahen Regionen (z. B. Essoauira) regnet es relativ oft.

Anreise: Essaouira hat einen kleinen Flughafen, der von Deutschland aus allerdings nicht angeflogen wird. Am einfachsten ist die Anreise über Marrakesch (z. B. mit Eurowings, Lufthansa oder Ryanair, Direktflüge hin und zurück ab 50 Euro, typischerweise ca. 300 bis 400 Euro). Für die Einreise ist kein Visum erforderlich, am Flughafen wird der Pass abgestempelt.

Unterkunft: Bestes Haus in Essaouira ist „Heure Bleue Palais“, dessen Dachterrasse mit Blick auf Meer und Sonnenuntergang ideal ist für die Blaue Stunde, Doppelzimmer ab 260 Euro, heure-bleue.com. „Villa des Orangers“, feiner Riad im Zentrum von Marrakesch, Doppelzimmer mit Frühstück ab 400 Euro, villadesorangers.com. Beide Häuser sind Mitglied bei Relais & Chateaux, einem Verbund von Luxushotels, buchbar unter relaischateaux.com/de. „Les Yeux Bleus“ in Marrakesch ist ein einfacher, charmanter Riad, Doppelzimmer ab 170 Euro, marrakech-boutique-riad.com.

Reiseveranstalter: Bei Enchanting Travels kostet zum Beispiel eine 19-tägige Marokko-Rundreise mit je drei Nächten in Nobelunterkünften in Essaouira und Marrakesch ab 7790 Euro pro Person im Doppelzimmer, enchantingtravels.com/de/. Bei SKR kostet die Zwölf-Tage-Reise „Sternstunden im Süden“ mit beiden Städten ab 2499 Euro, skr.de.

Weitere Auskünfte: visitmorocco.com/de; exploreessaouira.com

Die Recherche wurde unterstützt von Enchanting Travels, dem Marokkanischen Fremdenverkehrsbüro (ONMT) und von Relais & Chateaux. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit.

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