Gent verspricht eine Zeitreise ins Mittelalter
Mitten im historischen Kern von Gent, direkt vor der Touristeninformation, erleben Passanten mit etwas Glück das Wunder der Geburt. Wenn dort auf dem Sint-Veerleplein die Laternen kurz aufflackern, kam gerade in der Stadt ein Kind zur Welt. Auf den Genter Geburtsstationen gibt es spezielle Tasten, die frisch gewordene Eltern drücken dürfen, sobald ihr Nachwuchs das Licht der Welt erblickt hat – auf ihren Knopfdruck hin leuchten dann die Laternen.
Die Idee stammt von einem italienischen Künstler, aber sie passt perfekt zu der flämischen Stadt, wo man sich auf magische Momente ebenso gut versteht wie auf originelle Festlichkeiten. So erscheinen die Bürger zum offiziellen Open-Air-Neujahrsempfang mit Bügelbrettern unterm Arm, irgendwo muss ja das Picknick samt Sektflasche drauf.
Gent ist mit rund 270.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Belgiens und galt lange als ein vor Touristen gut gehütetes Geheimnis. Doch immer mehr Besucher wollen mit den Bewohnern feiern, nicht nur bei den „Gentse Feesten“, dem größten Volksfest des Landes. 2024 verzeichneten die Hotels 20 Prozent mehr Übernachtungen als im Jahr zuvor.
Auch immer mehr Tagestouristen interessieren sich für die Stadt, der man heute noch ansieht, dass sie im Mittelalter sehr reich war. Was lockt: viel altehrwürdige Bausubstanz gepaart mit allem an Kultur und Kulinarik, was zu einer Uni- und Hafenstadt gehört. Dazu ein Schuss Genter Magie, und schon beginnt eine Zeitreise ins Mittelalter.
Die Vergangenheit ist in Gent allgegenwärtig
Zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt zählt eine veritable Ritterburg namens Gravensteen, mit Graben drumherum und Folterwerkzeugen im Keller. Den Audioguide für die Besucher hat ein stadtbekannter Komiker getextet. Er erklärt darin zum Beispiel, warum die Plumpsklos sich gut sichtbar für die Bürger entlang der äußeren Burgwand entleerten: eine besondere Form politischer Transparenz.
Tatsächlich sind die Genter stolz darauf, sich seit jeher kritisch mit ihren Oberhäuptern auseinanderzusetzen. So verweigerten sie im 16. Jahrhundert Kaiser Karl V. – übrigens ein echter Genter – eine Steuererhöhung, woraufhin dieser führende Bürger zu einer demütigenden Prozession zwang: barfuß, nur mit einem Hemd bekleidet und um den Hals einen Strick. Heute noch nennen sich Genter „Stroppendragers“, „Schlingenträger“. Bei den Gentse Festen feiern sie schon mal mit Seil um den Hals.
Die Vergangenheit ist in Gent so allgegenwärtig, dass sich niemand darüber wundern würde, wenn an der Supermarktkasse ein Burgfräulein säße oder ein Ritter die Straßenbahn chauffierte. „Nirgendwo sonst können Sie so schnell vom 14. ins 21. Jahrhundert reisen (und wieder zurück!), ohne das Gefühl zu haben, dass irgendetwas nicht stimmt“, verspricht das Stadtmarketing. Nostalgie-Magie.
Entsprechend zeitreisegemäß zelebriert die Stadt ihren wichtigsten Klassiker: den Genter Altar, dieses haushohe Meisterwerk von Jan van Eyck, enthüllt 1432, zu bewundern in der St.-Bavo-Kathedrale, bestehend aus zwölf mit biblischen Szenen bemalten Tafeln. Das berühmteste Motiv zeigt „die Anbetung des Lamms Gottes“, ein Wimmelbild mit einem Altar im Zentrum, darauf ein Schaf, das den Betrachter aus schönen Augen friedlich anschaut, während aus seinem Hals Blut in einen goldenen Kelch sprudelt.
In der Krypta der Kathedrale erzählt eine Augmented-Reality-Show den bebrillten Besuchern von der „jahrhundertelangen Soap“ rund um den Flügelaltar, also davon, wie er immer wieder zerlegt, beschlagnahmt, geraubt oder verkauft und im Zweiten Weltkrieg beinahe von Hitlers Schergen gesprengt wurde. Nach der Tour scheint der Altar erst recht als Wunder, wie er da hartnäckig von innen heraus zu leuchten scheint, van Eycks revolutionärer Maltechnik sei Dank.
Nachts wird das Zentrum der Stadt zum Lichtkunstwerk
Noch so ein Genter Original: Wenn es dunkel wird, verwandelt sich die Innenstadt in ein einziges Lichtkunstwerk, als breite der Eycksche Schimmer sich darüber aus. Hinter dem Zauber steckt ein ausgeklügelter Plan, den der Lichtbeauftragte von Gent, Bart Peeters, bei einem abendlichen Spaziergang erklärt: „Sehen Sie, an den historischen Fassaden hängen Leuchten, die den oberen Teil in warmweißes Licht tauchen. Alles 3000 Kelvin.“ Ah ja. „Wir nennen das atmosphärische Beleuchtung“, sagt Peeters. „Wir haben hier so viel Wasser, in denen sich die Fassaden spiegeln, all die Flüsse und Kanäle, das verdoppelt den Effekt.“
Peeters marschiert am Flüsschen Leie Richtung Sankt-Michaelis-Brücke. Hier fotografieren sich Touristen so in Ekstase, dass sie manchmal den vielen eiligen Radfahrern in den Weg taumeln. Im Fokus der Knipser: die ikonische Skyline von Gent, die gleich von drei Türmen geprägt wird. Zu sehen ist neben der Sankt-Bavo-Kathedrale die Sankt-Nikolaus-Kirche sowie der Belfried, ein mittelalterlicher Glockenturm mit Drachen obendrauf, einst als Symbol bürgerlicher Macht errichtet.
Alle drei scheinen – wie der Altar – aus dem Inneren zu schimmern. Der Trick hier: „Das ist unsere Monument-Beleuchtung. Wir strahlen die Gebäude zum einen aus der Ferne an, zum anderen betonen wir zusätzlich Details, damit sie plastischer aussehen. Beim Belfried haben wir etwa Lichter hinter den Balkon gesetzt.“
Ein ausgeklügelter Zauber. Auf visit.gent.be findet sich eine Karte für eine zweistündige Tour entlang von 66 beleuchteten Highlights. Auf dem Weg liegt auch die futuristische De-Krook-Bibliothek, eine 2017 eingeweihte, preisgekrönte Stahl-Glas-Konstruktion, in der man Menschen eifrig studieren sieht – und auf gemütlich aussehenden Liegen herumlungern. Gent ist eben mehr als historische Kulisse. Garantiert trifft man bei so einem Lichterbummel irgendwo auch ein Grüppchen von Biertrinkern, versammelt um einen Lautsprecher, aus dem Hip-Hop dröhnt.
Kulinarische Klassiker und kreative Köche
Einmal Mittelalter und zurück – das gilt auch für das kulinarische Angebot der Stadt. Quasi die örtliche Ursuppe ist die sogenannte Gentse Waterzooi, ein Eintopf, der im 14. Jahrhundert mit Süßwasserfischen gekocht wurde und heute mit Hühnchen zubereitet wird. Im traditionsbewussten Gent gibt es diesen und andere Klassiker wie den Rindfleischeintopf Stoverij an fast jeder Ecke – sogar in einem Restaurant namens Fortschritt („Brasserie du Progrès“).
Zugleich gelten die Köche der Stadt als besonders kreativ und servieren schon mal Taube an Sichuan-Pfeffer und Schwarzwurzeln (im vom „Gault Millau“-Guide hochgelobten Lokal „Karel de Stoute“) oder Schimmelkäseeis mit Kaviar und Fenchelpollen (im Sternerestaurant „Oak“). Zudem machte das alternativ angehauchte Gent bereits 2009 den Donnerstag zum „Veggiedach“. Heute gibt es zahlreiche vegetarische Restaurants, etwa das „Plant a Pizza“, das beim Belag auf Cashew-Käse setzt und sich als „die erste 100 Prozent pflanzliche Pizzeria“ des Landes rühmt.
Pralinen- und Bierspezialitäten aller Art haben die Genter natürlich auch zu bieten, wir sind ja in Belgien. Typisch Genter Geschichtsbewusstsein: Die Stadtbrauerei hat sich auf Grut spezialisiert, ein Bier, das wie im Mittelalter statt mit Hopfen mit Kräutern gebraut wird.
Aber man muss nicht jede Genter Tradition verinnerlichen: Überall in Touristennähe werden kleine Kegel mit fruchtiger Füllung verkauft, die nach Haribo aussehen und Neuzen (Nasen) heißen. Das Rezept hat sich angeblich ein Apotheker im 19. Jahrhundert ausgedacht, die Süßigkeit schmeckt irgendwie nach Medizin.
Überhaupt fühlt sich so einiges in den Touristen-Hotspots leicht nach Nepp an, seien es die überteuerten Luxusfritten beim „Frites-Atelier“ (gute Fritten gibt es anderswo auch, nur deutlich günstiger) oder das geschmacklich eher bescheidene Bierverkostungsangebot mancher örtlichen Brauerei.
Weniger überlaufen als andere Orte in Belgien
Trotz aller Highlights ist die Stadt längst nicht so überlaufen wie die nahegelegene Weltkulturerbe-Stadt Brügge. Zudem gibt es gerade in Gent jede Menge Alternativen zum klassischen Sightseeing. Um Menschen dorthin zu lotsen, finanziert die Stadt sogar eine spezielle Touristeninformation namens Giftshop, zu finden in einer Gasse voller Graffiti-Kunst. Hier geben junge Leute Tipps, was man weitab der Massen anstellen kann.
Zugleich wollen sie hören, was die Fremden zu erzählen haben. Gründer Stef Moens: „Wir sehen Touristen als Menschen, die Wissen mitbringen, als Gelegenheit, um mit der Welt ins Gespräch zu kommen.“ Dazu setzt der Giftshop auch auf Kunstaktionen. So lud man etwa Passanten zu einem Mahl aus übrig gebliebenen Lebensmitteln. „Einheimische und Besucher haben sich dabei darüber ausgetauscht, wie man mit Essensabfällen in verschiedenen Teilen der Welt umgeht.“ Zum Abschied gab es dann eine Rechnung über null Euro.
Um dem Trubel zu entkommen, reicht es, in den Stadtteil Rabot zu schlendern. Nur zehn Gehminuten von der Grafenburg entfernt liegt der „Alte Beginenhof“, dessen Ursprünge ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Beginen waren alleinstehende Frauen, die als religiöse Gemeinschaft zusammenlebten, aber kein Gelübde ablegten.
In Flandern gab es mehrere Dutzend solcher Beginenhöfe, bestehend aus einzelnen Häusern, Gemeinschaftsgebäuden sowie Gärten. Drei davon sind noch in Gent zu bestaunen. Die Gässchen des „Alten Beginenhofs“, einst ummauert, sind heute Teil der Stadt, in den Backsteinhäuschen leben normale Leute, auf dem Platz vor der Kirche mit Zwiebeltürmen wird im Sommer gepicknickt.
Und doch ist der Gebäudekomplex eine eigene Welt mit dem Schuss Genter Nostalgie-Magie. Wie es wohl war, als hier noch ausschließlich Frauen lebten? Frauen, die manchen als erste Feministinnen galten? Wäre auch mal eine Netflix-Serie wert, eine Zeitreise mit Beginen.
Tipps und Informationen:
Anreise: Mit dem Hochgeschwindigkeitszug (Eurostar/ICE) zum Beispiel von Köln nach Brüssel Midi, dort Umsteigen nach Gent St. Pieters. Wer fliegen will, bucht bis Brüssel, vom Flughafen kommt man mit der Bahn nach Gent. Autofahrer nehmen hinter Aachen die Autobahn A3 bis Brüssel, weiter auf der A10 bis Gent.
Unterkunft: „1898 The Post“ – wer mal in einem Umschlag oder einer Postkutsche schlafen möchte: So heißen die Zimmer in dem zentral gelegenen ehemaligen Postamt, heute ein Luxus-Boutique-Hotel mit historischem Flair, Doppelzimmer ab 276 Euro, 1898thepost.com. „The Boatel“, das originelle Hotelschiff liegt ganz in der Nähe des örtlichen Jachthafens, es gibt fünf Zimmer, Doppelzimmer mit Wasserblick ab 149 Euro, theboatel.com/de.
Nicht verpassen: Das Schwimmbad Van Eyck: Das 1886 erbaute Hallenbad ist das älteste und schönste Belgiens – allein wegen des Art-déco-Interieurs lohnt es sich, dort ein paar Bahnen zu ziehen, Eintritt kostet sechs Euro, stad.gent/nl/sport/aanbod/sportlocaties/zwembad-van-eyck. Die alten Docks: Gent kann auch cool – wo früher Hafengelände war, entstehen neue Stadtteile und Einkaufszentren, siehe visitgent.be/die-alten-docks und visit.gent.be/de/staunen-erleben/dok-noord. Dort residiert auch eine neue Brauerei samt Brewpub (dokbrewingcompany.be).
Weitere Auskünfte: Stadt Gent: visit.gent.be/de/; Flandern Tourismus: visitflanders.com/de
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