Manchmal dauert es, bis der Groschen fällt. Und auch erst dann, wenn jemand energisch auf den Automaten schlägt. Dieser Jemand ist Donald Trump. Er hat die Europäische Union aufgescheucht. Und sie veranlasst, bisher undenkbare Kraftanstrengungen in Angriff zu nehmen. Die EU soll nun eine ernst zu nehmende weltpolitische Größe werden.

Und plötzlich zeichnet sich eine neue Architektur der Gemeinschaft ab. Bisher galt es als ein in Stein gemeißelter Glaubenssatz, dass sich die EU um die deutsch-französische „Achse“ zu drehen habe. Jetzt aber scheint ein ungewohnter Polyzentrismus Platz zu greifen. Polen soll, dreieinhalb lange Jahrzehnte nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs, endlich zu einem zentralen Player der EU werden.

Die Briten, die sich aus der EU verabschiedet hatten, legen unter Keir Starmer den Ehrgeiz an den Tag, auch ohne Mitgliedschaft bei der militärischen Selbstertüchtigung der Gemeinschaft ein gewichtiges Wort mitzureden. Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien als Zugpferde eines postkarolingischen Europas – dieses Quartett lässt hoffen.

Aber das genügt nicht. Denn in dem neuen Bunde fehlt mindestens ein wichtiger Staat: Italien. Das Land wurde bisher nördlich der Alpen fast abgeschrieben. Es gilt als eine unstete, schwer kalkulierbare politische Anomalie. Ein Land, das man besser auf Distanz hält. Doch das ist ungerecht. Und kurzsichtig.

Ungerecht, weil es die historische Bedeutung Italiens für die Formierung Europas ignorant missachtet. Und weil Italien eine wichtige Begründungsnation des europäischen Einigungsprozesses war. Kurzsichtig ist der verächtliche Umgang mit Italien, weil dem größten EU-Staat an der Mittelmeerküste eine bedeutende Rolle in der Migrationspolitik der EU zukommt.

Italien wird gebraucht

Noch bedeutsamer ist eine andere Unterlassung. In der EU weiß man nicht so recht, wie verlässlich das von einer Rechtspopulistin regierte Italien auf Dauer sein wird. Deswegen gab es bisher keine Versuche, das neue EU-Quartett unter Einbeziehung Italiens zum Quintett auszubauen. Das wäre aber gerade jetzt wichtig. Italien wird gebraucht.

Wie Donald Trump ist auch Giorgia Meloni Nationalistin. Nicht zuletzt deswegen stehen sie sich nahe. Meloni, die eine herausragende europäische Rolle spielen will, bemüht sich seit der Wahl Trumps zum amerikanischen Präsidenten um eine Mittlerrolle zwischen der EU und den USA.

Statt dies mit scheelem Blick von der Seitenlinie aus zu beobachten, wäre es besser, die Mitgliedstaaten der EU setzten einiges daran, Meloni in diesem Bemühen zu unterstützen. Nur Größe und Stärke beeindrucken Trump. Könnte die italienische Ministerpräsidentin im Namen der EU Trump gegenübertreten, fiele das vermutlich mehr ins Gewicht als EU-Alleingänge. Einen Versuch wäre es wert.

Immerhin ist Meloni die einzige rechtspopulistische Politikerin Europas, die unbeirrt für die Unterstützung der Ukraine eintritt. Auch hat sie seit ihrem Regierungsantritt vor zweieinhalb Jahren ihre Anti-EU-Polemik eingestellt. Vielleicht in taktischer Absicht, schließlich ist Italien von EU-Geldern abhängig. Es zählt aber, dass Meloni – anders als Orbán – nicht den zersetzenden Streit mit der EU sucht. Sondern im europäischen Geleitzug bleibt.

Gewiss hat sie, man merkt es an ihrer Innenpolitik, ihre eigene nationalistische Agenda. Solange sie sich aber im Rahmen der EU in der Zoll- und der Ukraine-Frage um einen Draht zu Trump bemüht, sollte die EU das begrüßen und fördern. Und es nicht als gefährlich abtun oder darüber spotten. Viele andere Optionen hat die EU ja nicht.

Es gibt einen weiteren Grund, die außenpolitischen Vermittlungsversuche der italienischen Ministerpräsidentin nicht ins Leere laufen zu lassen. Denn obwohl ihre Partei in den Umfragen mit etwa 30 Prozent klar an erster Stelle liegt, steht Meloni mit ihrer Außenpolitik, insbesondere in der Ukraine-Frage, allein da.

Ukraine-Frage spaltet die Politik

Mit Ausnahme der unter zehn Prozent geschrumpften Berlusconi-Partei „Forza Italia“ stehen alle anderen Parteien Italiens der militärischen Unterstützung der Ukraine skeptisch bis ablehnend gegenüber. Das Schicksal des Landes bewegt sie kaum. Matteo Salvini, der Vorsitzende der Regierungspartei „Lega“ und stellvertretender Ministerpräsident, inszeniert sich seit Jahren als Putin-Freund und lässt keine Gelegenheit aus, die Ukraine-Hilfen als töricht und als Geldverschwendung hinzustellen.

Auch in Melonis eigener Partei, den „Fratelli d’Italia“, ist die Unzufriedenheit mit der Ukraine-Politik der Vorsitzenden verbreitet. Schon deswegen, weil in dieser staatsautoritären Partei ein strongman Putin per se hohes Ansehen genießt.

Man könnte nun erwarten, dass die oppositionellen Mitte-links-Parteien diese Spaltung im rechten Lager als Chance nutzen und sich kraftvoll von der im rechten Lager verbreiteten Russophilie absetzen – und, schon aus taktischen Gründen, die regierungsinternen Querelen in der Ukraine-Frage propagandistisch ausschlachten. Doch das tun sie nicht, im Gegenteil. Sie sind in dieser Frage mindestens so gespalten wie das Regierungslager.

Die einstmals radikalpopulistische „Fünf-Sterne-Bewegung“, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte angeführt wird, versteht sich als neutralistische Friedenspartei und organisiert in diesem Sinne vielerorts in Italien Demonstrationen gegen Melonis Plan, Italiens Verteidigungsfähigkeit zu verbessern. Eine militärische Unterstützung der Ukraine lehnen die Fünf Sterne entschieden ab.

Das verhält sich bei der größten Oppositionspartei, der „Demokratischen Partei“ (PD), nicht anders. Obwohl sie im Grunde eine sozialdemokratische Partei ist, steht sie ihrer kommunistischen Herkunft wegen doch immer noch weit weniger geschlossen zum westlichen Bündnis und zur Wehrhaftigkeit der liberalen Demokratie als die SPD. Dem Vorhaben, die EU verteidigungstüchtig zu machen, begegnet sie mit großer Skepsis oder lehnt es ab.

Die knapp 40 Jahre alte PD-Vorsitzende Elly Schlein, die aus einem aktivistischen Milieu kommt, meidet in der Ukraine-Frage konsequent jede Festlegung. Das mag ihrer Überzeugung entsprechen – und ist ein Zugeständnis an den linken Flügel der Partei, der sich noch immer der kommunistisch inspirierten Tradition der Friedensbewegung verpflichtet fühlt. Und in dem die Moskau-Sympathie aus den großen Zeiten der italienischen KP noch längst nicht vergessen ist.

Sorgsam wird auf Kundgebungen und Demonstrationen der Partei darauf geachtet, dass sich keine „Bellizisten“ mit russlandkritischen Plakaten unter die Reihen der Friedensfreunde mischen. Wie die Ordnungskräfte der Partei bei solchen Anlässen auch strikt darauf achten, dass keine Anti-Hamas-Plakate mitgetragen werden. Während „propalästinensische“ Fahnen und Parolen willkommen sind.

Zwar organisiert Italiens Linke derzeit zahlreiche pro-europäische Kundgebungen und Demonstrationen, deren Teilnehmer vor allem blaue EU-Fahnen mit sich tragen. Ins europäische Ausland senden sie die Botschaft: Seht hier, wir sind das gute, das europafreundliche Italien, das dem Gründungsimpuls der EU verpflichtet ist.

Tatsächlich aber ähneln ihre Parolen denen von Europas Rechtspopulisten. Diese reden auch ständig von Frieden und Verhandlungen, sehen Russland nicht als Gefahr und lehnen die Schaffung eines europäischen Verteidigungspotenzials strikt ab. Schon weil es – da unterscheiden sich dann die Rechtsradikalen von der Linken – europäisch und nicht national wäre.

Vermittlerin im Weißen Haus

Italiens Ministerpräsidentin hat mit ihrer Haltung zur Ukraine also keine Mehrheit hinter sich, weder im eigenen noch im oppositionellen Lager. Trotz der unsäglichen Verachtung, die der von ihr so geschätzte Trump gegenüber der Ukraine an den Tag legt, bleibt Meloni bei ihrem proukrainischen Standpunkt.

Als sie am Donnerstagabend als erste europäische Regierungschefin vom US-Präsidenten im Weißen Haus empfangen wurde, setzte sie Trumps abschätzigen Bemerkungen über Präsident Wolodymyr Selenskyj energisch ihre Überzeugung entgegen, die Ukraine verdiene nach wie vor die Unterstützung des Westens. Zwar stimmte sie mit Trump im Abscheu gegen alles Woke überein und sieht, wie Trump, in der Migration ein Menetekel für den Westen.

Trumps in freundliche Worte verpacktes, aber vergiftetes Angebot, die einzig akzeptierte Stimme Europas am Hofe des Präsidenten zu werden, lehnte Meloni klar und deutlich ab. Sie sei, was die Beziehung zwischen den US und der EU angehe, keine Dealmakerin, sondern nur Vermittlerin.

Das Treffen mit Trump brachte (noch) keine greifbaren Ergebnisse. Es wurde viel gelächelt und gelacht. Giorgia Meloni scheint aber klug genug zu sein, sich auch von einem heftig schmeichelnden Trump nicht aus der Gemeinschaft der EU herauslösen zu lassen.

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