Stacheldrahtzaun und Betonbarrieren riegeln die Allee zum finnischen Grenzposten Niirala ab. Von hier in Nordkarelien sind es nur zwei Kilometer nach Russland, doch das Gebiet gleicht einer militärischen Sperrzone. „Stopp“ prangt auf drei Schildern, daneben auch auf Russisch der Hinweis: kein Durchkommen. Seit knapp eineinhalb Jahren hält Finnland seine rund 1340 Kilometer lange Ostgrenze geschlossen.

Die Regierung begründet die Schließung als einen Akt der Notwehr gegen Putins hybride Kriegsführung. Der Vorwurf: Russland setze Massenmigration als Waffe ein, um den Nachbarstaat zu destabilisieren. Laut dem finnischen Innenministerium gelangten zwischen August und Dezember 2023 etwa 1300 Personen ohne Visum illegal über die russischen Grenzstellen nach Finnland. Sie kamen aus Ländern wie Syrien, Somalia, dem Jemen und dem Irak. Die meisten von ihnen beantragten Asyl und hatten Russland nur zur Durchreise genutzt.

Zu dem Grenzeklat kam es nur wenige Monate, nachdem Finnland 2023 offiziell der Nato beigetreten war. Der Beitritt war ein Einschnitt nach Jahrzehnten der militärischen Bündnisneutralität, aber eine klare Reaktion auf Russlands Angriff gegen die gesamte Ukraine.

Seit dem Überfall auf Kiew im Februar 2022 hat sich in Finnland das Bewusstsein für die eigene Bedrohung geschärft. In dem Land mit 5,5 Millionen Einwohnern gilt für Männer noch immer die Wehrpflicht. Im Kriegsfall kann die Armee auf Hunderttausende Reservisten zurückgreifen. Im Winterkrieg 1939 hatte die Rote Armee Finnland mit knapp einer halben Million Soldaten angegriffen.

Durch die Nato-Mitgliedschaft ist Finnland wieder stärker ins Visier des Kremls gerückt. In der ostfinnischen Stadt Mikkeli richtet das Militärbündnis derzeit ein neues Multinationales Landkommando (MCLCC) ein. Eine künftige Aufgabe ist es, Pläne für die Landkriegsführung auszuarbeiten. Anfang April hat die finnische Regierung beschlossen, die Verteidigungsausgaben ab dem Jahr 2029 auf mindestens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen.

Hauptmann Eetu Multanen hat vor anderthalb Jahren vor Ort erlebt, wie sich die Lage an der Ostgrenze zugespitzt hat. Der 34-Jährige leitet den Grenzübergang in Niirala. „An drei verschiedenen Tagen hatten wir allein hier plötzlich jeweils etwa 200 Migranten“, sagt er im Gespräch mit WELT AM SONNTAG nahe der Grenzstelle. Das russische Vorgehen sei eine „Instrumentalisierung von Migration“. Mittlerweile sei die Situation aber unter Kontrolle, und es gebe nur noch vereinzelt Versuche, die Grenze illegal zu überqueren, berichtet Multanen.

Auf höherer Ebene stünden die russische und finnische Seite weiterhin im Austausch. Hunderttausende Russen hatten die Grenzstelle vor der Schließung jährlich überquert, um in der Region einzukaufen oder ihre Ferien zu verbringen. Nun habe sich der Fokus ihrer Arbeit verschoben, berichtet Multanen, von den Grenzkontrollen zur Überwachung der Landgrenze. Es gebe Patrouillen, aber sie nutzten auch Drohnen zur Aufklärung. „Wir können nicht jeden Meter jederzeit überwachen, also müssen wir analysieren, wo Einsätze notwendig sind“, erklärt der Grenzschützer.

Finnland hat sich dazu entschlossen, die Verteidigung gegen Russland durch den Bau eines Sperrzauns zu stärken. Nach bisherigen Plänen soll der Zaun auf einer Länge von etwa 200 Kilometern entlang der Ostgrenze entstehen. Dafür wurden in Südostfinnland und Nordkarelien bereits großflächig Bäume entfernt. Die Fertigstellung des gesamten Sperrzauns ist für das Jahr 2026 vorgesehen.

„Die Stellen, an denen der Zaun errichtet wird, gelten als Hochrisikogebiete – zum Beispiel Grenzübergangsstellen“, erklärt Hauptmann Multanen. In Niirala etwa werde der Zaun nur einige Kilometer lang sein. Auch das finnische Militär hat derzeit genau im Blick, was an der Grenze zu Russland vor sich geht.

Generalleutnant Vesa Virtanen, Chef des Verteidigungskommandos der Verteidigungskräfte Finnlands (FDF), beobachtet eine erhöhte Aktivität der russischen Streitkräfte entlang der finnischen Grenze. „Jetzt sehen wir, dass Russland neue Infrastruktur aufbaut und – sobald es ihnen möglich ist – mehr Truppen in die Region bringen wird“, sagte Virtanen im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Die russische Armee reorganisiere sich. „Aus Brigaden werden Divisionen – vielleicht vier oder fünf Divisionen, ein Armeekorps und unterstützende Einheiten. Es wird also mehr russische Truppen geben als vor dem Krieg in der Ukraine.“

Virtanen berichtet, dass vor dem Krieg etwa 20.000 russische Soldaten sowie rund vier Bereitschaftsbrigaden an der finnischen Grenze stationiert waren. Die meisten dieser Truppen seien mittlerweile für den Fronteinsatz in der Ukraine von der finnischen Grenze abgezogen worden. Gleichzeitig sieht er keine Chance, die Grenzschließung auf absehbare Zeit aufzuheben. „Wir haben Hinweise, dass es bei einer Wiederöffnung der Grenze erneut zu einer Welle von Massenmigration kommen könnte. Deshalb halten wir sie geschlossen“, erklärt der Generalleutnant.

Einen russischen Angriff auf Finnland oder einen anderen Nato-Staat hält Virtanen derzeit für „sehr unwahrscheinlich, aber möglich.“ Vielmehr teste der Kreml seit Jahren durch die Steuerung von Migrationsströmen, durch Cyberangriffe oder auch durch GPS-Störungen die Grenzen von Artikel 5, der den Bündnisfall regelt. „Russland lotet aus, wie weit man gehen kann, ohne den Bündnisfall auszulösen.“ Im vergangenen Dezember war erneut ein Unterseekabel – dieses Mal zwischen Finnland und Estland – beschädigt worden. Aus finnischen Sicherheitskreisen heißt es, man habe trotz anfänglichen Verdachts bislang keinen Beweis für eine russische Verantwortung finden können.

Ähnlich wie in Deutschland registriere man aber verdächtige Drohnenflüge über Finnland, sagt Virtanen. „Wir haben auch beobachtet, wie sich Personen in der Nähe kritischer Infrastrukturen bewegt haben, und wir waren Ziel einiger Informationsoperationen“, so Virtanen weiter. Im Sommer 2023 wies Finnland neun Personen aus, die an der russischen Botschaft tätig waren und nachweislich nachrichtendienstliche Aktivitäten betrieben hatten. Bereits im Jahr zuvor waren zwei Mitglieder der russischen Botschaft ausgewiesen worden, in Abstimmung mit Maßnahmen anderer EU-Staaten.

Wer in diesen Wochen durch Finnland reist, nimmt keinerlei Panik wahr, aber eine erhöhte Sensibilität. Grenzschützer Eetu Multanen sagt, sein Team könne sich im Kriegsfall jederzeit in eine militärische Organisation verwandeln. An der Grenzstelle greifen sie schon jetzt rigoros durch. Als der Reporter dieser Redaktion beim Ausparken für wenige Meter in die verbotene Grenzzone rollt, pfeift ihn der Hauptmann zurück. Es drohe sonst eine Geldstrafe. Die Finnen meinen es ernst.

Ibrahim Naber ist seit 2022 Chefreporter der WELT und berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie über die US-Wahlen 2024.

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