Es ist ein verstörendes Video, aufgenommen Anfang März an einem unbekannten Ort in Mauretanien. Eine junge Frau, nach eigenen Angaben aus der Elfenbeinküste, sitzt mit einem Säugling im Arm auf dem Boden, spricht in eine Kamera und klagt ihr Leid. Ihr Ehemann und andere Verwandte seien mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung geholt und festgenommen worden. Sie selbst, frisch operiert nach einem Kaiserschnitt, könne sich kaum bewegen oder essen. Die Frau bittet um Hilfe, sie sagt: „Menschen aus der Elfenbeinküste gehen in Mauretanien durch die Hölle.“

In dem normalerweise wenig beachteten nordwestafrikanischen Staat, flächenmäßig so groß wie Spanien und Deutschland zusammen, aber mit fünf Millionen Einwohnern dünn besiedelt, geht es in diesen Tagen hoch her in Sachen Migrationsbekämpfung. Mauretanien hat sich in den vergangenen Monaten zum wichtigsten Abfahrtsort auf der Route gen Kanarische Inseln entwickelt – und nun greift die Regierung in Nouakchott durch: Ausländer, ob nun gewillt, illegal in die EU zu gelangen oder nicht, werden systematisch aufgegriffen und außer Landes gebracht. Vor allem in den Senegal, aber auch nach Mali.

Eine Razzia folgt der nächsten – in Wohnvierteln, auf Baustellen, an Busbahnhöfen. Betroffene – wie die junge Frau mit dem Säugling – berichten in sozialen Medien davon, aus europäischen Sicherheitskreisen wurde WELT das Vorgehen der Behörden bestätigt. Wie viele Menschen seit Anfang März abgeschoben wurden, ist unklar; eine Anfrage von WELT zu den Massenabschiebungen beantwortete die mauretanische Regierung nicht.

Ein Regierungssprecher hatte Ende März mitgeteilt, mehr als 120.000 Ausländer hätten es schlichtweg versäumt, ihre im Jahr 2022 ausgestellte Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Bei den Abschiebungen handle es sich bloß um „Routine-Einsätze“. Viele Betroffene widersprechen: Es gebe schlicht keinen legalen Weg zur Verlängerung der Visa.

Amadou Diagne, ein senegalesischer Bauarbeiter, der seit Jahren in Mauretanien lebt, sprach per Telefon mit WELT und berichtete von Menschen, „die in Würde arbeiten und keine Pläne haben, nach Europa zu gehen“, aber trotzdem festgenommen würden. „Jeder kommt mit Visum oder Geld – aber es gibt kein einziges Büro, wo man die Papiere verlängern kann. Und jetzt verhaften sie Menschen einfach so.“

Der Fall eines Freundes, ein Maurer, sei typisch, so Diagne: „Er wurde um acht Uhr morgens auf dem Weg zur Arbeit verhaftet und über Stunden von einer Polizeistation zur nächsten gebracht. Am späten Abend wurde er mit über hundert anderen in einen Bus der Gendarmerie verladen und zur Grenze gebracht.“ Unter den Abgeschobenen seien Staatsangehörige aus Guinea, Mali, Gambia, Kamerun und der Elfenbeinküste gewesen. Andere – wie der Malier Mohamed Magassa – erzählen, sie seien in zivilen Taxis von unbekannten Männern abgefangen. „Ich wusste nicht einmal, dass das Polizisten waren“, sagte Magassa.

In einem Video vom 25. März sagt ein Senegalese, er habe seine Aufenthaltserlaubnis erst zwei Wochen zuvor erhalten, gültig für drei Monate: „Trotzdem wurde ich abgeschoben.“ Andere berichten von zerstörten kleinen Geschäften, in die sie zuvor ihr gesamtes Vermögen investiert hätten.

Viele Migranten vermuten, dass Nouakchott im Auftrag der EU handelt, und verweisen auf ein Migrationsabkommen von Anfang 2024. Dieser Deal sieht unter anderem europäische Finanzhilfen – im ersten Schritt waren es 210 Millionen Euro – im Gegenzug für schärfere Grenzkontrollen und Rückführungen vor.

Außerdem wurden gemeinsame Ermittlungen zu Schmuggler-Netzwerken und die Rücknahme in der EU abgelehnter Asylbewerber vereinbart. Der Kampf gegen illegale Migration, er sollte, so die EU, „unter Wahrung der Rechte und Würde“ der Betroffenen geführt werden.

„Unsicherheit und fehlende wirtschaftliche Perspektiven in der Region treiben viele Menschen zur Migration. Diese führt sie oft zunächst nach Mauretanien“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen damals. Vor allem für Spanien ist eine Zusammenarbeit mit Mauretanien von großer Bedeutung; die Ankünfte von Booten auf den Kanarischen Inseln sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, nie kamen so viele Menschen illegal wie 2024 (rund 48.000).

Spanische Beamte in Afrika

Seit der sogenannten „Cayuco-Krise“ im Jahr 2006, als Zehntausende auf einmal in Richtung Kanaren losfuhren, unterhält Madrid eine ständige Sicherheitspräsenz in Mauretanien. Nach Angaben des Innenministeriums sind derzeit 43 Beamte der Policía Nacional und 34 Angehörige der Guardia Civil in Nouakchott und in der Hafenstadt Nouadhibou, einer der wichtigsten Abfahrtsorte für Migranten in Nordafrika überhaupt, stationiert.

Sie beteiligen sich an gemeinsamen Patrouillen mit einheimischen Beamten, der Ausbildung mauretanischer Sicherheitskräfte, nachrichtendienstlichen Tätigkeiten und der Kontrolle von Migrationsrouten. Auch spanische Küstenwachenboote, Geländefahrzeuge, ein Hubschrauber und ein Flugzeug kommen zum Einsatz.

Die Situation im Land spitzte sich Ende März weiter zu, als ein Todesfall bekannt wurde. Ein junger Senegalese war in Nouakchott von sechs Männern auf offener Straße erstochen worden. Bereits Anfang März war es zu Spannungen an der Grenze zu Mali gekommen. In Gogui griff eine Gruppe von Migranten, die abgeschoben werden sollten, eine Polizeistation an, setzte sie in Brand.

In den Nachbarländern sorgt das Vorgehen Nouakchotts für Aufregung. In Bamako verurteilte der malische Außenminister Moussa Ag Attaher die Rückführungen als „eklatanten Verstoß gegen internationale Regeln“. In Dakar bezeichnete die senegalesische Außenministerin Yacine Fall die Abschiebungen im Parlament als „inakzeptabel“. Folgen der Kritik? Keine.

Auch als vor zwei Wochen hochrangige Delegationen aus Senegal, Mali und Gambia nach Nouakchott reisten – darunter Außenminister, Parlamentsabgeordnete und Diplomaten –, änderte sich die Lage nicht; die Abschiebungen gehen unvermittelt weiter.

Und so ist das Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im senegalesischen Grenzort Rosso zur Notunterkunft für Abgeschobene geworden, die nicht weiterwissen – Menschen aus Gambia, Kamerun, Guinea, Mali. Vielen fehlt das Geld für die Rückreise in die Heimat.

Inwiefern die Initiative die illegale Migration gen Kanaren reduziert, ist indes unklar. Fakt ist: Die Zahl der Ankünfte steigt vorerst weiter. Allein im ersten Quartal 2025 registrierten die spanischen Behörden über 12.000 Menschen – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum.

Der Großteil der Boote stach von mauretanischen Stränden in See.

Wir sind das WELT-Investigativteam: Sie haben Hinweise für uns? Dann melden Sie sich gerne, auch vertraulich – per E-Mail oder über den verschlüsselten Messenger Threema (BNJMCK4S).

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke