Es ist eines der größten Verbrechen der jüngeren Geschichte. Wenn die russische Armee eine Region eingenommen hat, manchmal auch nur ein Dorf, kommt ein festgelegter Ablauf in Gang: Die lokale Verwaltung wird ausgetauscht, Vertrauensleute werden protegiert, Widersacher ermordet, festgenommen, vergewaltigt, gefoltert oder eingeschüchtert – und es werden Kinder entführt. Alles wird in Listen festgehalten.

Mindestens 19.546 Kinder hat Russland im Zuge der Invasion seit dem Februar 2022 ihren Familien entrissen. Das aber sind nur die bestätigten Fälle. Ausgegangen wird von einer weitaus höheren Anzahl. In Summe ist das ein Verbrechen, das in seiner Dimension kaum zu fassen ist. Es wird nach wie vor tagtäglich begangen, ist aber nur selten sichtbar.

Und momentan macht es den Eindruck, als bestünde auf internationaler Ebene wenig Interesse an einer Aufklärung. Man kann sogar sagen, es bestünde Interesse daran, das Thema eher unter den Teppich zu kehren. Ein riesiges Recherche-Projekt der Yale University steht vor dem Aus. Und auch die Einstellung der Zahlungen an ukrainische NGOs betrifft direkt dieses Feld.

Das Thema hat weitreichende politische Implikationen. Die Entführung von Kindern ist Grundlage für den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes ICC gegen Russlands Diktator Wladimir Putin. Der ICC sieht „hinreichende Gründe für die Annahme, dass Herr Putin für die genannten Verbrechen individuell strafrechtlich verantwortlich ist, weil er die Handlungen unmittelbar, gemeinsam mit anderen und/oder durch andere begangen hat.“

Der ICC glaubt also, dass es einen direkten Befehl für dieses Verbrechen gibt. Er hat nicht nur einen Haftbefehl gegen Putin ausgestellt, sondern auch gegen die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Alekseyevna Lvova-Belova.

Laut der NGO „Save Ukraine“, die sich vor allem mit dem Thema Kinderentführungen befasst, befinden sich etwa 1,6 Millionen ukrainische Kinder auf von Russland besetzten Gebieten. „Save Ukraine“ geht davon aus, das rund die Hälfte von ihnen zumindest zwischenzeitlich verschleppt wurde. Diese extrem hohe Zahl ergibt sich durch Camps, die von Russland zu Beginn der Großinvasion massenweise organisiert wurden. Viele Kinder kamen aus diesen Camps zurück zu ihren Familien. Manche aber auch nicht.

Heute werden ukrainische Kinder laut Recherchen des Humanitarian Research Lab der Yale University in mindestens 43 Einrichtungen in ganz Russland festgehalten – zumeist sind es Camps und größere Einrichtungen, in denen sie umerzogen, militarisiert, russifiziert werden sollen. Das ist das Ziel. Und dahintersteht eine riesige Logistik, ein Gewirr an staatlichen Stellen sowie halbstaatlichen Organisationen. Es ist sehr schwierig, den Überblick zu behalten.

Denn alles passiert unter rigoroser Abschottung. Internationale Ermittler, Beobachter oder internationale Organisationen haben keinen Zugang. Die „Kommission des UN-Menschenrechtsrates zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine“ hat insgesamt 31 Anfragen an Russland gerichtet, um zum Beispiel auch russische Vorwürfe ukrainischer Kriegsverbrechen untersuchen zu können. Es habe keine „inhaltliche Antwort“ gegeben, so der Chef der Kommission, Erik Mose. So gut wie keinen Zugang haben auch die ukrainischen Familien der Kinder. Aus Russland dringt damit in erster Linie nur heraus, was Russland auch kommunizieren will.

Viele Berichte ergeben ein Gesamtbild

Ein Gesamtbild ergibt sich damit erst aus Mosaiksteinchen. Da sind die Berichte von Kindern, die es nach Hause geschafft haben, da sind die Berichte von Angehörigen, da sind Berichte von Personen auf okkupiertem Gebiet, die etwas beobachtet haben. Da sind die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden, da sind unzählige ukrainische NGOs wie „Save Ukraine“, die Daten sammeln und aufbereiten, da ist die Untersuchung des UN-Menschenrechtsrates und da ist das Humanitarian Research Lab der Yale University mit einer der größten Datenbanken zu diesem Thema, die bisher auch ukrainischen Ermittlern offen steht.

„Save Ukraine“ versucht herauszufinden, wo die Kinder festgehalten werden, organisiert Anwälte und Rückreisen. In rund 600 Fällen ist das geglückt. Andere Organisationen kümmern sich um die Rehabilitation – sammeln zugleich aber auch Beweismittel. Und da ist letztlich der Internationale Strafgerichtshof ICC, der seine Schlüsse aus all den Erkenntnissen gezogen hat.

Es gehe „um die Rechte von Opfern auf Wahrheit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung“, so Mose. Es gehe darum, dass Opfer zu ihrem Recht kämen. Denn, so sagt der Jurist, der schon am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda beteiligt war: Gerechtigkeit sei das Fundament jeder Einigung. Eine nachhaltige Beilegung dieses Krieges könne ohne Rechenschaftspflicht nicht erreicht werden, sagt er.

Finanzierung für Recherche wurde gekappt

Genau diese Rechenschaftspflicht ist aber gefährdet, wenn die US-Regierung etwa den Zugang zur Datenbank der Yale University sowie die Finanzierung für das Recherche-Projekt kappt. Jetzt läuft das Projekt wieder. Aber es ist unklar wie lange. Aktuell, so sagt Nathaniel Raymond von der Yale University, hätten jedenfalls „Bewahrung und Übertragung der Daten aus den vergangenen drei Untersuchungsjahren“ Priorität. So könnten zumindest die „europäischen Partnern und die Ukraine“ auf den Datensatz zugreifen.

Und es ist ein Datensatz von unschätzbarem Wert: Es sind 13 Berichte über den Zeitraum von drei Jahre, die dazu beigetragen haben, „dass sechs internationale Strafgerichte Anklage erhoben haben“. Über Zukunftsaussichten oder Einschätzungen will sich Raymond nicht äußern: „Ich bin ein Ermittler für Kriegsverbrechen, kein Philosoph. Ich bin Polizist. Und ich unterrichte keine Polizisten in Hegel.“

Es fehlt überall an Geld

Aber nicht nur das Humanitarian Research Lab kämpft mit Widerständen. Auch die Untersuchung des UN-Menschenrechtsrates hat seit geraumer Zeit mit massiven Finanznöten zu tun – was laut Mose sehr wohl Auswirkungen auf die Breite der Erhebungen habe, nicht aber auf deren Tiefe, also die Qualität. Dass die US-Regierung alle Projekte über USAID eingestellt hat, wirkt sich ebenfalls aus: Denn nicht zuletzt sammeln und dokumentieren eine Reihe an NGOs Kriegsverbrechen, oder arbeiten daran, dass Opfer zu ihrem Recht kommen. Betroffen von der Zahlungssperre sind zudem Rehabilitationsprogramme für heimgekehrte Kinder oder eine spezialisierte Notrufhotline.

Der Schaden ist bereits angerichtet. Eine Aktivistin beklagt den Vertrauensverlust, den die aktuelle Politik der US-Regierung mit sich gebracht hat. Denn es mache vor allem für die Familien von Opfern einen sehr großen Unterschied, wo Daten gelagert werden und was mit ihnen passiert. Vertrauen spiele da eine große Rolle. NGOs und Behörden hoffen jetzt auf eine Normalisierung der US-Außenpolitik.

Allerdings ist Zeit ein entscheidender Faktor. Die Kinder werden in Russland massiver Propaganda ausgesetzt, militarisiert, indoktriniert. Heimgekehrte Kinder erzählen von Misshandlungen. Sie erzählen aber auch, wie die russische Indoktrination wirkt. Dass es in ihren Gruppen etwa Kinder gegeben habe, die nicht mehr nach Hause wollten – obwohl Mütter und Großmütter angereist waren.

Nach einiger Zeit erhalten diese Kinder zudem eine neue Identität. Wenn sie die neuen Dokumente erhalten haben, oder adoptiert wurden, sind sie so gut wie nicht mehr ausfindig zu machen. „Putin behandelt unsere Kinder wie Kriegsbeute“, so ein Vertreter von „Save Ukraine“. Die Identität dieser Kinder werde ausgelöscht, ihre Zukunft gestohlen.

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