Tarndecken, groß genug, um einen Panzer unsichtbar zu machen
Ein Gewerbegebiet am Stadtrand von Katowice, dem früheren deutschen Kattowitz, Hauptstadt der Woiwodschaft Schlesien. Das übliche Ambiente, wie man es auch an den Rändern von Bielefeld, Halberstadt und Zittau findet: Logistikunternehmen, Lagerhäuser und Werkstätten, in denen noch ganz altmodisch geschraubt, geschweißt, gesägt und gehämmert wird.
Mittendrin steht eine flache weiße Baracke, ohne jeden Hinweis darauf, was drinnen geschieht. Keine Klingel, kein Name an der hölzernen Eingangstür, das Fenster daneben erlaubt nur einen trüben Blick in einen Raum, in dem sich Kartons stapeln.
Die Tür ist nicht abgeschlossen. Niemand verwehrt einem den Zutritt. Die zweite Tür führt in einen Raum, der fast vollständig von einer großen „Sztaluga“ eingenommen wird, einer Art Staffelei, an der drei Frauen werkeln. Was sie genau machen, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen.
Es sieht aus, als würden sie an einem Kunstwerk für die nächste Documenta in Kassel arbeiten. Es könnte aber auch eine Markise sein, die Schutz vor glühender Sonne, anfliegenden Spatzen und neugierigen Blicken der Nachbarn bieten soll. Tritt man näher, erkennt man, was da in Handarbeit entsteht – eine Tarndecke, groß genug, um einen Geländewagen unsichtbar zu machen, wenn nötig sogar einen Panzer.
Zu beiden Seiten der Staffelei ist ein Netz gespannt, das mit Stofffetzen verknotet wird. Das Netz stammt aus einem Fachgeschäft für Zaunanlagen, die „Verkleidung“ aus einer Kleiderfabrik, die strapazierfeste Materialien zu Uniformen verarbeitet.
Was dabei übrig bleibt, landet nicht im Abfall, sondern zuerst in der Baracke und später als Tarndecke an der russisch-ukrainischen Front – dank Kateryna, Tatjana, Elizabeta, Alicja und etwa zwei Dutzend weiteren Frauen, die sich bei der Arbeit abwechseln. Es sind Ukrainerinnen, die ihre Männer, Brüder und erwachsenen Söhne zurückgelassen haben und vor der russischen Armee und dem Krieg nach Polen geflohen sind.
Katowice, etwa 400 Kilometer westlich der polnisch-ukrainischen Grenze gelegen, war nicht unbedingt das Ziel ihrer Träume, sagt Kateryna. „Es hat sich so ergeben.“ Wie fast alle ihre Freundinnen kannte auch sie jemanden, „der jemanden kannte, der schon eine Weile in Polen lebt“, und bei der Suche nach Arbeit und Wohnung helfen konnte. Bei aller Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Polen sind die geflüchteten Ukrainerinnen vor allem auf sich selbst angewiesen. 955.110 Menschen sind nach Angaben der Europäischen Union in das Land geflüchtet.
Ein engmaschiges Sozialsystem wie in Deutschland gibt es in Polen nicht. Für Arbeitslose übernimmt der Staat die Kosten der Krankenversicherung. Für jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr gibt es jeden Monat 800 Zloty (knapp 200 Euro) Kindergeld. Zu Beginn des Krieges im Februar 2022 durften Ukrainer alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen, aber das ist vorbei.
Kateryna, 1987 in einem Vorort von Kiew geboren, ist alleinerziehende Mutter eines inzwischen zehnjährigen Jungen und hat ihr Philologie-Studium mit einer Arbeit über „Idiome und Phraseologie in der englischen Sprache“ abgeschlossen. Nach drei Jahren in Katowice und Umgebung, mehreren Umzügen und etlichen Jobs, für die sie überqualifiziert war, spricht sie fließend Polnisch und hat einen festen Job bei einer Einrichtung für Erwachsenenbildung.
Ihr Sohn Artem besucht die vierte Klasse einer Grundschule und lernt Cello zu spielen. Die Flucht aus Kiew, nur vier Tage nach dem Beginn der russischen Großinvasion, die endlose Fahrt in einem überfüllten Zug von Kiew in das polnische Chelm, die Weiterbeförderung mit einem Bus ausgerechnet nach Oswiecim, wo Mutter und Sohn sich ein paar Tage auf Einladung der Stadt in einem Hotel erholen konnten – all das könnte auch der Plot eines Films sein, der gute Chancen hätte, auf der Berlinale mit einem Ehrenbären ausgezeichnet zu werden. Oder für eine Miniserie auf Netflix. Denn die Geschichte geht weiter.
Kuriere bringen die Tarndecken an die Front
Kateryna managt die Aktivitäten ihrer Frauengruppe, sorgt dafür, dass die Netze und Stoffreste pünktlich geliefert werden und die fertigen Tarndecken bei den Empfängern ankommen. Der Versand erfolgt mit freiwilligen Kurieren oder mithilfe einer privaten Post. Bis an die Front? – „Sehr nahe dran.“
Letztes Jahr bildeten die Decken zusammengerechnet eine Fläche von 5000 Quadratmetern, das entspricht sieben bis acht Tennisplätzen. Die Frauen knoten nicht drauflos, sie haben genaue Formatvorgaben: vier auf sechs, vier auf sieben, fünf auf acht und zehn auf zehn Meter.
Die fertigen Decken müssen sorgfältig gefaltet werden, damit beim Auspacken und Entfalten nichts reißt. Zwischen die Lagen kommen Kostbarkeiten, die das Leben an der Front erträglicher machen sollen. Schokolade, Kekse, Tütensuppen, Pulverkaffee, Teebeutel. Alles, was guttut, außer Zigaretten.
Die Frauen haben keine festen Arbeitszeiten. Sie kommen und gehen, wann es ihnen passt. Mal sind fünf oder sechs gleichzeitig da, mal nur eine oder zwei. Die älteste, Alicja, genannt Alla, kommt fast jeden Tag. Sie arbeitet im Sitzen, knotet Tarnhauben für Helme zusammen und spricht nur Ukrainisch.
Morgen, sagt sie, könne sie nicht kommen. Ihre Enkelin Solomija mache gerade das Abitur an einem Musik-Gymnasium. Und sie möchte dabei sein, wenn „das Kind“ zur Feier des Tages ein Geigenkonzert gibt.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke