Sie ging ins Wasser. Danach war nur noch Stille
Es ist ein Morgen im April 2020, die Sonne in dem Küstenort Marina del Rey im US-Bundesstaat Kalifornien versteckt sich noch, nur einzelne Lichter erhellen die Dunkelheit, als sich Angela Madsen mit kräftigen Ruderschlägen Meter um Meter hinaus auf den Pazifik schiebt. Am Ufer steht ihre Partnerin Debra und blickt ihr hinterher. Es soll das größte von etlichen beeindruckenden Abenteuern der querschnittsgelähmten US-Amerikanerin werden: allein und ohne Unterstützung gut 4000 Kilometer über den Pazifik bis nach Hawaii. An diesem Morgen des 22. April vor fünf Jahren, als Madsen auf den Ozean rudert, umarmte Debra ihre Partnerin zum letzten Mal. Angela Madsen stirbt im Pazifik. Kurz nach ihrem 60. Geburtstag.
Madsens Leben glich einem Kampf, ihre Schicksalsschläge reichen für mehrere Leben. Es war der Sport, auch der Ozean, der ihr einst neuen Mut und neue Motivation gab, als sie ganz unten war, und ein fortwährender Begleiter blieb. Der Sport und der Ozean aber waren es auch, die der Paralympics-Medaillengewinnerin das Leben nahmen: Ihr Traum von der Soloüberquerung endete in einer tödlichen Tragödie. Doch Madsens Geschichte ist weit mehr als dieser gescheiterte Versuch, der sie das Leben kostete. Ihre Geschichte erzählt von Widerstandsfähigkeit und Willen, von einer großen Lust auf das Leben, auch von einem gewissen Trotz, sich nicht unterkriegen zu lassen. Es geht um Mut und Hoffnung.
Also entschloss sich Debra Madsen, die Reise ihrer Partnerin zu Ende zu bringen und deren Geschichte weiterzuerzählen. Dafür reiste sie kürzlich auch nach Deutschland, wo der Dokumentarfilm „Row of Life“ Teil der International Ocean Film Tour ist. Einst geplant als Doku über Madsens größtes Abenteuer, transformierte die Regisseurin Soraya Simi es durch darin eingebettete Einschübe und Rückblicke in eine Erzählung über ihr Leben. „Es gab Zeiten“, sagt Debra, „da wollten wir die Doku nicht zu Ende bringen, aber Angela hatte immer den Wunsch, einen Film zu machen.“ Also suchte Debra Bilder, Nachrichten und alte Aufnahmen heraus, die die Lücken, entstanden durch die unerwartete Tragödie, füllen könnten.
„Ich hoffe, dass die Menschen mit dem Gefühl hinausgehen, dass es Hoffnung gibt, dass sie nach vorn blicken und einen neuen Weg einschlagen können, um ihr Leben zu meistern“, sagt die 62-Jährige. Sie möchte weitergeben, wer Angela Madsen war, was sie antrieb, wie sie ihren Weg fand. Wer also war diese Frau?
Eine Abwärtsspirale setzte ein, Madsen wurde obdachlos
Eine Mutter und Großmutter, eine Ex-Marine, eine begeisterte Leichtathletin und Basketballspielerin, als sie bislang nicht auf den Rollstuhl angewiesen war, ein Mensch, der völlig aus der Bahn geworfen wurde, den Halt verlor, ihn aber wiederfand, eine ebenso ehrgeizige und erfolgreiche wie leidenschaftliche Ruderin und Leichtathletin – nicht trotz ihres Handicaps, sondern mit ihm. Und eine Frau, die Anfang der 1980er-Jahre erkannte, dass sie Frauen liebt. „Sie war der erstaunlichste Mensch, den ich je getroffen habe“, sagt Debra. „Sie war freundlich und fürsorglich, und ich fand es toll, wie sie Menschen mit zerebralen Lähmungen oder anderen Behinderungen umging, Menschen, die Schwierigkeiten hatten zu sagen, was sie sagen wollten. Und wenn es eine Stunde dauerte – Angela gab ihnen das Gefühl, wichtig zu sein.“
Debra Moeller, eine Sozialarbeiterin, die lange im Kinderschutz tätig war, und Madsen trafen sich 2007, später heirateten sie. „Sobald jemand zu Angela sagte, sie könne etwas nicht, war es vorbei.“ Es stachelte sie an.
Genau das war einer der Gründe, weshalb Madsen als junge Frau zu den Marines ging – ihr Bruder hatte gesagt, sie würde es nicht schaffen. Bei einem Basketballtraining für das Marine Corps kam es dann 1980 zu einem Trainingsunfall – Madsen stürzte, eine andere Spielerin trat auf ihren Rücken, zwei Bandscheiben wurden verletzt. Sie erholte sich langsam, konnte aber keine körperlich herausfordernden Tätigkeiten mehr ausüben. Ein Autounfall 1992 machte dann eine Operation an der Wirbelsäule notwendig, doch etwas ging schief – als Madsen aufwachte, war sie von der Hüfte abwärts gelähmt.
Eine Zeit des Abstiegs begann, Madsen war gefangen in einem Teufelskreis: Sie konnte die anfallenden medizinischen Kosten nicht bezahlen, vom Marine Corps gab es keine Unterstützung, ihre Beziehung zerbrach, sie kämpfte mit Depressionen, wurde obdach- und hoffnungslos. Fotos zeigten sie schlafend in ihrem Rollstuhl vor Disney Land.
„Du musst nur einen neuen Kurs von dort aus festlegen, wo du bist“
Ihre alte Liebe Basketball, dieses Mal dann eben im Rollstuhl, war ihr Start zurück ins Leben. Das Rudern war es schließlich, dass ihr alsbald eine Form von innerem Frieden und neuem Antrieb gab. „Auf dem Boot, auf dem Wasser“, sagte sie, „da bin ich frei.“ Und erfolgreich. Madsen wurde Weltmeisterin im Doppelzweier, startete bei drei Paralympics (2008, 2012 und 2016) und kam einmal mit Bronze dekoriert nach Hause – allerdings nicht als Ruderin, sondern als Kugelstoßerin.
Längst hatte sie da schon das Ozeanrudern für sich entdeckt, also die Überquerung von Ozeanen im Ruderboot. Ob in offiziellen Wettbewerben oder als Duo oder Team bei Rekordversuchen. Insgesamt trug sich Madsen 14-mal ins „Guinness-Buch der Rekorde“ ein.
Eine ihrer ersten Fahrten sollte ihren weiteren Weg auf und abseits des Wassers prägen. „Sie kamen immer wieder vom Kurs ab und versuchten immer wieder zurückrudern“, erzählt Debra. Allein, es gelang nicht wirklich. „Angela entschied schließlich, den Plan zu ändern und ihn den Gegebenheiten anzupassen. Sie sagte sich: Du musst nicht zurück. Du musst nur einen neuen Kurs von dort aus festlegen, wo du bist. Alles andere ist Zeitverschwendung.“ Ein Grundsatz, den sie verinnerlichte. Eine Parabel für das Leben.
Ihr „Warum?“ hat viele Facetten
Madsens Intention auf dem Ozean oder bei anderen sportlichen Herausforderungen war stets ähnlich. Da war zum einen der persönliche Ehrgeiz, der Wille, es sich und anderen zu beweisen, die Erfüllung persönlicher Träume, die Freude an Herausforderungen und dem Überwinden vermeintlicher Limits. „Ich mache das, um mein Ziel zu erreichen und auch, um andere Menschen zu inspirieren, sich höhere Ziele zu setzen“, sagte Madsen einmal. „Ich möchte außerdem zeigen, dass die Menschen meine Fähigkeiten und damit auch die Fähigkeiten eines jeden nicht danach beurteilen sollten, was sie sehen – in meinem Fall den Rollstuhl.“
Und sie wollte Menschen mit Handicap Mut machen, ihnen zeigen, dass ihr Leben wertvoll ist. Dass man zwar die Art und Weise ändern muss, wie man Dinge tut, dann aber sehr vieles schaffen kann. Madsen selbst hatte Zeit und Hilfe gebraucht, um dies zu sehen und mit Diskriminierung umzugehen, dann aber all ihre Energie investiert, sich aus den Tiefen zu kämpfen und oben zu bleiben. „Sie war wirklich gut darin, den Menschen zu zeigen, dass sie alles tun können, was sie wollen“, sagt Debra. „Und es musste nicht unbedingt Sport sein. Angela wollte, dass die Leute herausgehen.“ Weil sie selbst wusste, wie gut es ihr tat, in der Welt zu sein.
Ganz allein dort draußen, kein Begleitboot, niemand
Und dann kam diese Idee, die zu einem Traum, zu einem Ziel, schließlich zu einem Projekt wurde: solo über den Pazifik. 2013 versuchte sie es zum ersten Mal, musste aber während eines Unwetters abbrechen. Der Traum ließ sie nicht los. „Hätte ich sie stoppen können?“, fragt Debra rückblickend und gibt sich die Antwort selbst: „Nein, sie wollte es so sehr.“ Also unterstützte sie ihre Partnerin.
Erst eine Frau hatte dieses Abenteuer bis dahin bewältigt: Roz Savage. Die Britin war damals jünger. Und ohne Handicap. Als tollkühn aber, als allzu wagemutig oder gar leichtsinnig sollte Madsen niemand bezeichnen. Oft genug hatte sie bewiesen, was sie kann, gut genug hatte sie sich vorbereitet. Und am Ende birgt jedes extreme Abenteuer Risiken; das war ihr bewusst. Und sie kannte ja die Gefahren, die auf dem Ozean lauern, wusste, dass diese zudem größer waren, wenn sie auf sich allein gestellt ist. Zumal „solo“ bedeutet, dass sie wirklich ganz allein war dort draußen, kein Begleitboot, niemand. Nur sie und der Ozean. Aber Angela Madsen war bereit, die Risiken einzugehen. „Auf dem Meer zu sein, machte sie glücklicher als alles andere“, sagt Debra Madsen heute – Angela sagte damals: „Es kann absolut beängstigend sein, aber Angst ist kein Grund. Ich will durch nichts besiegt werden.“
Also brach sie auf. Sie ruderte, schlief und kochte auf dem Boot. Kein Stopp an einem Ufer, nichts dergleichen. Ihre Familie verfolgte die Reise mithilfe eines Trackers, mit ihrer Frau war sie täglich per Nachrichten oder Video in Kontakt, und die Enkel gratulierten am 10. Mai zum 60. Geburtstag. Die harten Zeiten auf See bei starken Winden empfand sie bisweilen als beängstigend, aber Madsen hielt durch, kämpfte weiter, wie es ihre Art war.
Danach war nur noch Stille
Dann kam Tag 59 auf See. Der 21. Juni. Madsen hatte gut 2000 Kilometer zurückgelegt, vermeldete technische Probleme an ihrem Boot und kündigte an, für eine Reparatur ins Wasser zu steigen. Eine Reparatur, die nötig war, um für den angekündigten Sturm gewappnet zu sein. Sie selbst, Debra – alle wussten: Das Boot zu verlassen, stellt beim Ozeanrudern ein Risiko dar. Aber es war ein größeres Risiko, die Reparatur nicht zu erledigen. Also ging Madsen ins Wasser. Danach war nur noch Stille.
Debras Nachrichten blieben unbeantwortet, über Stunden. Etwas, das vollkommen untypisch war. Zudem zeigte der Tracker des Bootes, dass es sich nicht mehr in die anvisierte Richtung bewegte. Debra Madsen schlug Alarm, die Suche der Küstenwache begann – und sie endete 25 Stunden später mit der schlimmsten aller Nachrichten. Ein unter deutscher Flagge fahrendes Frachtschiff barg schließlich den Leichnam. Vom Boot fehlt jede Spur.
Was war passiert? Ungewiss. Debra Madsen hat viel darüber nachgedacht. Warum schaffte es ihre Frau nicht zurück ins Boot? „Sie ist superstark, sie konnte besser in ein Boot zurückkehren als jeder andere. Und es gab keine Verletzungen, die darauf hindeuten würden, dass sie sich den Kopf angeschlagen hat“, sagt sie. Ihre Theorie: Hypothermie. Das Wasser war zwar nicht extrem kalt, aber da Madsen von der Taille abwärts nichts spürte, könnte es dennoch eine Unterkühlung gewesen sein, die sie nicht bemerkte und die ihre Folgen zeigte, bevor Madsen reagieren konnte. Oder ein Herzinfarkt.
Madsens Boot ist bis heute irgendwo dort draußen, ihr Körper kehrte leblos an Land zurück. Den Traum aber erfüllten ihr Debra und die Familie auf eine andere Art: Zwei Jahre später fuhren sie mit einem Boot hinaus auf den Pazifik, hin zur Ziellinie nach Hawaii. Im Arm hielt Debra dabei die Urne mit der Asche ihrer Frau.
‚Weitermachen. Nach vorn schauen!’
„Ich vermisse sie sehr“, sagt die 62-Jährige. „Aber sie hat ihren Traum gelebt. Angela hatte zweimal Krebs, ihre Geschwister sind an Krebs gestorben, sie hatte all ihre Rückschläge – Angela musste ihr Leben leben.“ Und was sie dann sagt, klingt fast zu kitschig, um wahr zu sein: „Als wir die Ziellinie überquerten, kam ein Delfin und sprang über die Spitze des Segelbootes. Ich weiß, das klingt seltsam. Und es war bizarr. Aber so war es.“
Fünf Jahre ist der Tod ihres Lebensmenschen nun her, drei Jahre diese Zieleinfahrt, wenige Wochen die Premiere der Dokumentation. Im Ohr und im Kopf hat sie Angela aber täglich. „Sie sagt mir, dass ich trotz aller Trauer meinen Hintern hochbekommen und etwas tun muss. Ich soll mich nicht selbst bemitleiden“, sagt Debra Madsen am Ende des Gesprächs.
„Angela gab sich an schlechten Tagen immer nur fünf Minuten, um sich selbst zu bemitleiden, dann sagte sie zu sich: ‘Weitermachen. Nach vorn schauen!’ So weit bin ich bisher nicht, aber ich gebe mein Bestes.“
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, Extremsport sowie über Themen aus dem Fitness- und Gesundheitsbereich. Hier finden Sie ihre Artikel.
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