Nagelsmann schreitet durch Himmel und Hölle
Sechs Tore, eine Aufholjagd der Italiener: Mit viel Zittern zieht die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ins Halbfinale der Nations League ein. Bundestrainer Nagelsmann erlangt wieder neue Erkenntnisse über sein Team.
Wenn etwas an diesem denkwürdigen Fußballabend verzeihbar war, dann ja wohl, den Überblick zu verlieren. Genau das passierte dann Julian Nagelsmann im Pressesaal des Dortmunder Westfalenstadions. Erst die völlig wilden 90 Minuten, mit zwei Hälften, wie Tag und Nacht, die das 3:3 (3:0) gegen Italien zur Folge hatten, dann noch Interviews in "zwölf TV-Studios" und zu guter Letzt die abschließende Pressekonferenz. Der Bundestrainer wirkte gehetzt, seiner Stimme hatte irgendwo dazwischen Schaden genommen. Und so richtig hatte Nagelsmann die Partie auch nicht durchanalysiert.
Gut, das wäre auch unmöglich gewesen. Zu viel war da am Sonntagabend in Dortmund passiert. Es wird noch etwas dauern, diese Partie zu verarbeiten. Die DFB-Elf lieferte ein Spiel irgendwo zwischen Himmel und Hölle ab. Irgendwo zwischen dem Besten, was dieses Team seit Jahrzehnten gezeigt hat, und der Gefahr, all das doch noch zu verspielen. Nagelsmann versuchte auf der Pressekonferenz, seine Erkenntnisse zu strukturieren, nur wurden diese immer mehr. Erst eine Lehre, dann zwei und schließlich drei.
Aber der Reihe nach. Die DFB-Elf hatte eine "gefährliche" 2:1-Führung aus Mailand entführt, und diese galt es wahlweise zu verteidigen oder auszubauen. Beim Blick auf die Startaufstellung zeigte sich: Nagelsmann entschied sich für die erstere Variante. Erstmals seit dem 0:2-Debakel gegen Österreich vor anderthalb Jahren startete die DFB-Elf wieder mit einer defensiveren Dreierkette. Und es war beängstigend, wie gut Nagelsmanns Idee funktionierte: Sein Team drückte die Italiener ganz tief in die eigene Hälfte, erstickte sie beinahe. Die Italiener wussten nicht, wie ihnen geschieht: Ständig hatten sie einen deutschen Gegenspieler auf den Füßen stehen.
Kimmich, Kimmich, Kimmich
Nagelsmann zog eine wichtige Lehre aus dem Hinspiel und brachte diesmal BVB-Heldengrätscher Nico Schlotterbeck von Beginn an als zusätzlichen Verteidiger. Schon am Donnerstag in Mailand hatte Schlotterbeck die Italiener nach seiner Einwechslung verzweifeln lassen. Im Rückspiel machte er dort einfach weiter. Jeden noch so zaghaften Versuch eines Konters grätschte er ab, sehr zur Freude des Dortmunder Publikums, das vom BVB länger keine so leidenschaftliche Leistung gesehen hatte. Es feierte jeden von Schlotterbecks Ballgewinnen. Vor lauter Grasflecken möchte man nicht derjenige sein, der dieses Trikot wieder waschen muss.
Weniger schwierig war dagegen: Das DFB-Team belohnte sich für seine Dominanz. Während es früher solche Spiele gerne noch verloren hatte, zeigte sich die Nagelsmann-Elf diesmal radikal effizient. "Major Tom" hob in der 30. Minute zum ersten Mal ab, als Kapitän Joshua Kimmich einen Foulelfmeter zum 1:0 verwandelte. Beim 2:0 verschaffte sich ein Balljunge seinen Eintrag in die DFB-Geschichtsbücher, als er Kimmich vor einer Ecke gedankenschnell das Spielgerät übergab. Italiens Torwart Gianluigi Donnarumma war noch damit beschäftigt, seine Vorleute zu sortieren, da hatte Jamal Musiala den Ball schon in seinem Kasten untergebracht. Zehn Minuten später durften die DFB-Fans wieder die Erde verlassen: Nach einer Kimmich-Flanke traf Kleindienst zum 3:0.
Es überrascht nicht, dass Nagelsmann über das, was er da gesehen hat, verzückt war. Seine erste Lektion war also: Die DFB-Elf kann "unfassbar ansehnlichen Fußball" spielen. Es sei das Beste, "was wir bisher gespielt haben. Der Gegner hatte keine Chance gegen uns in der ersten Halbzeit", sagte er auf der Pressekonferenz. Doch dann fällt ihm direkt die zweite Lehre ein. Bei Nagelsmann ist es eine Binse: Ein Fußballspiel endet nicht mit dem Pausenpfiff.
Wechsel zum falschen Zeitpunkt
Schon direkt nach der Halbzeit rutschte Kimmich vor der eigenen Abwehrreihe aus, Moise Kean schnappte sich den Ball und schloss zum 1:3 ein. Der Bundestrainer wollte aus gleich zwei Gründen nicht allzu viel über die zweiten 45 Minuten reden. Zum einen: Sein Team verlor jede Kontrolle, wirkte teilweise überfordert, alles sei ein bisschen "Freestyle" gewesen. Es kann also auch noch das Gegenteil von "unfassbar ansehnlichem Fußball" spielen. Und zum anderen: An dem Einbruch war Nagelsmann nicht ganz unschuldig.
Eigentlich war das Gegentor kein Problem, es wurde erst zu einem, als Nagelsmann nach gut einer Stunde dreimal wechselte. Er nahm seine Doppelsechs aus dem Spiel: Leon Goretzka und Angelo Stiller, für sie kamen Nadim Amiri und Pascal Groß. Mit den Wechseln verlor die DFB-Elf ihre Struktur. Plötzlich kamen die Italiener wieder ins Spiel, die sich nach der Pause für "Harakiri" (Nagelsmann) entschieden. Der eingewechselte Giacomo Raspadori hat zu viel Platz, bedient in der 69. Minute den freien Kean. Und der trifft zum 2:3. Auf der Tribüne weicht der Selbstzufriedenheit der DFB-Fans plötzlich das große Zittern. Und Nagelsmann? Der wird sichtlich nervös. Er tigert durch seine Coachingzone, nestelt ständig an seiner Jacke, dirigiert, gibt Anweisungen. Bei einem Fehlpass reißt er sich fast die Jacke vom Körper.
Das Signal, das Nagelsmann sendete, war jedoch fatal: Mitten in der Drangphase der Italiener hatte er sein zentrales Mittelfeld aufgelöst. Darauf wurde dann auch später bei der Pressekonferenz angesprochen. Dort verteidigte er seine "gute Idee". Denn: Goretzka habe Oberschenkelprobleme gehabt, es sei klar gewesen, dass er nur bis zur 60. Minute spielen könne. Und Stiller hatte sich schon eine Gelbe Karte abgeholt. "Es steht 3:1. Warum soll ich das Risiko gehen, in Unterzahl zu spielen?", erklärte er seine Entscheidung. Das DFB-Team wankte im Anschluss bedrohlich stark, fiel aber nicht um. Wieder eine neue Erkenntnis.
Es ist wie so oft bei diesem DFB-Team in den vergangenen anderthalb Jahren. Man kann ihm immer mehr beim Wachsen zuschauen - wie eine Pflanze, die immer mehr gedeiht. Alles fing mit den März-Länderspielen 2024 an, der Geburtsstunde in Lyon. Nagelsmann hatte den Kader radikal umgestellt und den Mittelfeldstrategen Toni Kroos zurückgeholt. Danach kam die Europameisterschaft im eigenen Land und aus dem Lyon-Setzling wurde ein Bäumchen. Und nun steht da ein kleiner DFB-Baum im Final Four der Nations League. Das Ziel ist, dass das Nationalelf-Gewächs bis zur Weltmeisterschaft 2026 so sturmfest ist, dass es den Titel holen kann.
Und so summierten sich auch gegen Italien die Aha-Erlebnisse. Man habe drei Erkenntnisse gewonnen, bilanzierte Nagelsmann dann am Schluss: dass die DFB-Elf "richtig gut war", "dass ein Spiel trotzdem nie richtig vorbei ist" und "dass wir in beiden Halbzeiten gleich viel investieren müssen". Anders als anfangs angekündigt sind es also doch mehr Lehren. "Wenn wir 3:0 oder 4:0 gewonnen hätten, hätten wir vielleicht nur zwei gehabt. Also bin ich eigentlich ganz zufrieden." Und vieles mehr wird ihn auch in den kommenden Monaten beschäftigen: Deutet sich auch ein Qualitätsproblem in der zweiten Reihe an? Oder wem gehört die Zukunft auf der Doppelsechs?
Auch die Italiener wussten übrigens nicht so richtig, was sie mit dem wildem Spiel anfangen sollten. Deshalb fragte ein Journalist den Nationaltrainer Luciano Spalletti einfach geradeaus: Ist die Squadra Azzurra nun stark oder nicht? Er wüsste selbst nicht mehr, was er antworten soll. Spalletti holte lange aus, versteckte sich aber hinter einer geheimnisvollen Antwort. "Die Startelf war nicht so gut, aber es ist eine Startelf, die eigentlich stark ist", sagte er. Anders als Nagelsmann klang das nicht so, als hätte er schon neue Erkenntnisse erlangt.
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