„Ich war nicht mehr so glücklich, und das habe ich auch in meinem Privatleben gemerkt“
M Mehr als vier Jahre nach seinem fünften und bislang letzten Länderspiel durfte sich Nadiem Amiri wieder über eine Nominierung in der deutschen Nationalmannschaft freuen. Er ist Teil des Teams, das am Donnerstag im Viertelfinale der Nations League zunächst in Mailand gegen Italien spielt (Rückspiel am Sonntag, 20.45 Uhr, in Dortmund, beide Partie im Sport-Ticker der WELT). Der 28 Jahre alte Mittelfeldspieler des FSV Mainz 05 hatte sein bislang letztes Länderspiel noch unter Bundestrainer Joachim Löw im November 2020 beim 1:0 in Leipzig gegen Tschechien absolviert. Für das Überraschungsteam aus Mainz traf er in dieser Saison in 23 Ligaspielen sechsmal und bereitete zudem drei Tore vor.
Frage: Herr Amiri, Sie sind mit Mainz auf Champions-League-Kurs. Hätten Sie das jemals für möglich gehalten?
Nadiem Amiri: Europa League – ja. Champions League – niemals! Wir hatten im Sommer brutale Abgänge mit Brajan Gruda, Leo Barreiro und Sepp van den Berg. Dazu war der Saisonstart nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben.
Frage: Mittlerweile stehen Sie auf Platz drei. Nach dem 3:1 gegen Gladbach haben Sie gesagt, dass die Spieler, die jetzt nicht in die Champions League wollen, zu Hause bleiben können. Ziemlich angriffslustig.
Amiri: Was heißt angriffslustig? Wir wissen, dass es noch ein weiter Weg ist. Aber wer jetzt so gut in der Tabelle steht, noch acht Spiele hat und merkt, wir können Geschichte schreiben, der wäre doch falsch bei uns, wenn er jetzt nicht alles erreichen wollte.
Frage: Wer in der Mannschaft ist am gierigsten auf die Königsklasse?
Amiri: Alle. Wir sind alle gierig. Aber nicht nur auf die Champions League, sondern auf den Erfolg an sich. Unter der Woche investieren wir im Training so viel. Wir werden sehen, was wir damit erreichen können. Irgendwann zahlt sich das aus.
Frage: Sie sind bekannt dafür, dass Sie nach dem Spiel zum Megafon greifen, um mit den Fans zu feiern. Hat sich das einfach so ergeben?
Amiri: Ich gehe nicht dahin und nehme mir das einfach so. Die Fans fordern einen von uns auf, zu ihnen zu kommen. Dann „Nein“ zu sagen wäre respektlos.
Frage: In welchem Stadion würden Sie das berühmte „Humba Täterä“ gern mal singen?
Amiri: Auf dem Betze. Es wird mal wieder Zeit für ein Derby gegen Kaiserslautern ...
Frage: Wir hatten jetzt eigentlich an das Santiago Bernabéu von Real Madrid gedacht.
Amiri: Da hört man es nicht, da sind die Fans zu weit weg. Für das Bernabéu bräuchte ich ein größeres Megafon. (lacht) Aber in dem Stadion wollte ich schon immer mal spielen. Real Madrid ist mein Lieblingsverein – und Cristiano Ronaldo mein Idol.
Frage: Maßgeblich für Ihren und Mainz’ Aufschwung ist auch Trainer Bo Henriksen. Was verbindet sie?
Amiri: Er hat ein total sauberes, ehrliches Herz. Das ist Gold wert in diesem Geschäft. Die Energie, die er jeden Tag bringt, ist unbeschreiblich. Wie kann ein Mensch jeden Tag so positiv gestimmt sein? Im Training ist er immer relativ zurückhaltend. Vor dem Spiel in der Kabine kracht’s dann aber.
Frage: Was meinen Sie damit?
Amiri: Er pusht uns, redet die ganze Zeit und bringt viel Feuer rein. Wenn unsere Musik in der Kabine läuft, tanzt er, springt herum, lacht und spielt Luftschlagzeug. Der Trainer macht uns richtig heiß. Ich bin vor Spielen immer ein wenig angespannt, sonst kann ich nicht performen. Wenn du einen Trainer hast, der so locker ist wie Bo, nimmt dir das total viel Druck ab. Dann siehst du alles nur noch positiv und bist sicher, dass du gewinnst.
Frage: Vor Spielen gibt er Ihnen immer eine Art persönliche Botschaft mit. Können Sie ein Beispiel nennen?
Amiri: Ich weiß gar nicht, wie er das schafft, mich jedes Mal so zu packen. Der sagt immer was anderes. Vor dem Spiel gegen Gladbach hat er mich nur angelacht und gemeint: „Du weißt, was zu tun ist.“ Oder auch: „Bestimm das Spiel, bestimm den Rhythmus.“ Es sind aber nicht immer nur Motivationssprüche, auch taktische Anweisungen. Ich bin überrascht, dass er einfach immer recht hat.
Frage: Er hat ja auch Ihren Schlafmangel erkannt.
Amiri: Das stimmt. Mit zwei kleinen Kindern (ein Jahr alt und knapp fünf Monate alt, die Redaktion) zu Hause ist es mit dem Schlaf schwierig. Ich hatte drei Wochen, in denen ich deswegen nicht wie gewohnt performen konnte. Ich war wirklich am Limit. Bo hat mich während eines Trainings gerufen und gesagt: „Du brauchst Hilfe zu Hause.“ Ich meinte zu ihm: „Das ist alles nicht so einfach.“ Als ich es bei meiner Frau angesprochen habe, hat sie gesagt, dass ich schon donnerstags ins Hotel gehen soll, damit ich mehr schlafen kann. Meine Mutter kommt dann und hilft mit. Das ist Wahnsinn, was die beiden leisten. Ich hatte vor Kurzem zwei Tage trainingsfrei und war zu Hause. Mit den beiden Kids war es wunderschön – aber auch so anstrengend wie ein Trainingslager. (lacht)
Frage: Ihr zweiter Sohn kam in der Nacht nach der 0:4-Pokalpleite gegen Bayern vergangenen Oktober auf die Welt.
Amiri: Meine Frau meinte schon morgens zu mir: „Ich glaube, es geht bald los.“ Ich bin dann komplett aufgeregt vor dem Spiel ins Mannschaftshotel gefahren und wusste gar nicht, was Sache ist. In der Halbzeit habe ich kurz aufs Handy geguckt. Ich hatte eine Nachricht von meiner Frau: „Schatz, es ist so weit.“ Ich war eh leicht angeschlagen, habe gesagt: „Coach, bei mir gehen maximal noch zehn Minuten. Ich muss los!“ Es stand schon 4:0 für Bayern. Ich wurde dann in der 56. Minute ausgewechselt und bin sofort in den Kreißsaal. Um 3.50 Uhr kam dann mein Sohn zur Welt.
Frage: Was haben Sie von Ihrem Bruder und Ihrem Cousin gelernt, die ebenfalls Fußball gespielt haben?
Amiri: Beiden bin ich sehr dankbar. Sie sind älter als ich, haben Regionalliga gespielt, mir viel Rat und Zuspruch gegeben und mich mit ihren Erfahrungen auch geschützt, beispielsweise, dass ich keine falschen Berater an mich heranlasse. Und sie haben mir beigebracht, immer an mich zu glauben. Das hat mir in Leverkusen geholfen, als ich langsam ins Zweifeln kam.
Frage: Inwiefern?
Amiri: Ich war nicht mehr so glücklich, und das habe ich auch in meinem Privatleben gemerkt. Das lag vor allem daran, dass ich nicht gespielt habe. Über die Siege mit Leverkusen konnte ich mich für die Mannschaft freuen, aber nicht mehr richtig für mich selbst. In Mainz wurde ich gebraucht. Mit dem Wechsel bin ich außerdem nach Hause gekommen, wohne jetzt wieder in meiner Heimat Ludwigshafen. Das ist eine Autostunde von Mainz entfernt. Das war die richtige Entscheidung.
Frage: Mit Ihrem Ex-Mitspieler Florian Wirtz sind Sie noch regelmäßig im Austausch.
Amiri: Ja. Ich habe ihm direkt nach seiner Verletzung geschrieben und ihm gute Besserung gewünscht. Für mich ist er aktuell der beste Spieler in Deutschland.
Frage: Hat er Ihnen schon zur Saison gratuliert?
Amiri: Ja, wir haben auch schon darüber gesprochen. Er hat mir aber auch noch mal geschrieben, dass er sich sehr für mich freut. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis. Als er 16 und neu bei Leverkusen war, habe ich ihm geholfen und oft mit ihm geredet. Das hat er nicht vergessen.
Frage: 2026 könnten Sie gemeinsam für Deutschland bei der WM auflaufen. Ihr großes Ziel?
Amiri: Das ist zu weit gedacht. Ich habe gelernt, dass man Schritt für Schritt denken soll. Bei mir im Kopf ist nur das nächste Spiel. Der Rest kommt nächstes Jahr.
Frage: Sie sind zum ersten Mal seit 2020 wieder für die Nationalmannschaft nominiert worden. Was haben Sie sich gedacht, als das Handy geklingelt hat und da „Julian Nagelsmann“ stand?
Amiri: Seinen Anruf hatte ich erst verpasst, weil ich mit der Mannschaft beim Vormittagstraining auf dem Platz war. In der Kabine habe ich dann seinen Namen auf dem Handy gesehen, ich bin ja seit unserer gemeinsamen Zeit in Hoffenheim mit ihm in Kontakt geblieben. Da habe ich natürlich schon geahnt, weshalb er sich meldet und direkt zurückgerufen.
Frage: Was hat er Ihnen am Telefon gesagt?
Amiri: Das Gespräch war eigentlich nur kurz. Er hat mir ein paar nette Sachen gesagt, dass ich mir die Nominierung mit meinen Leistungen verdient habe und er sich freut, mich wiederzusehen. Richtig emotional wurde ich erst, als ich dann meine Eltern angerufen habe. Mein Vater hat am Telefon vor Freude angefangen zu weinen, da kamen mir dann auch die Tränen.
Frage: Wer verlässt den Verein im Sommer eigentlich für mehr Geld – Sie oder Ihr Mitspieler Jonathan Burkardt?
Amiri: Ich hoffe, dass wir beide hierbleiben und international spielen. Jonny ist aktuell der beste deutsche Stürmer. Es macht brutal Spaß mit ihm, wir verstehen uns blind.
Frage: Können Sie den Fans versprechen, dass Sie über den Sommer hinaus bleiben?
Amiri: Ich habe meinem Berater gesagt, dass er mich bis Sommer in Ruhe lassen soll. Ich habe so ein krasses Ziel mit dem Verein. Das will ich erst mal zu Ende bringen. Was im Sommer passiert, weiß ich nicht. Ich bin keiner, der sagt, dass er für immer bei Mainz 05 bleibt. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben. Und ich habe ja auch nicht ohne Grund im vergangenen Sommer bis 2028 verlängert.
Frage: Die Qualifikation für die Champions League würde wahrscheinlich bei der Entscheidung helfen, oder?
Amiri: Absolut. Die Europa League auch. Das ist die Bühne, auf der du dich am meisten zeigen kannst.
Frage: Welche Schlagzeile würden Sie gern am Ende der Saison lesen?
Amiri: Da fallen mir viele ein. Meine Traum-Schlagzeile wäre: „Mainz 05 erstmals in der Champions League“.
Frage: Und für Sie persönlich?
Amiri: „Amiri schießt Mainz in die Königsklasse!“
Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) geführt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.
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