Ein paar Meter unter der Brücke gluckst es geheimnisvoll, fließendes Wasser ist aber nur an zwei Stellen zu sehen. Überall dort, wo die Strömung nicht stark genug war, versteckt es sich unter einer Eisschicht. Pittoresk wird die Szenerie vor allem durch die Schneehügel, die sich auf den Felsen im Bachbett aufgetürmt haben. Wenn dieses Gesamtkunstwerk der Natur nicht so flüchtig wäre, würde die Instagramgemeinde hier wohl Schlange stehen.

Unterwegs sind wir auf der Via Engiadina, einer 46 Kilometer langen Wanderroute von Zernez nach Sent, die auch im Winter begehbar gehalten wird. Mit ihren vier Etappen zwischen fünf und 16 Kilometern verbindet sie die attraktivsten Dörfer im Unterengadin. Der örtliche Tourismusverband bietet viertägige Pauschalen mit Übernachtungen in guten örtlichen Hotels an. Man ist auf eigene Faust von West nach Ost unterwegs, am besten mit ordentlichen Wanderstiefeln plus Spikes, aber das Gepäck wird transportiert. Normale Kondition genügt, die Steigungen sind überschaubar.

Ein solches Angebot gibt es sonst nirgendwo in der Schweiz. Endstation ist das urige Bergdorf Sent mit seinem raketenförmigen Kirchturm, um das sich die typischen wuchtigen Engadinerhäuser scharen, in denen noch erfreulich viel Dorfleben herrscht. Obwohl Sent, um 930 gegründet, keine 900 Einwohner hat, gibt es im Ort zum Beispiel noch zwei traditionelle Bäckereien. Unbedingt probieren: das Bündner Birnenbrot!

Diese Abstecher in die Engadiner Vergangenheit sind, neben der landschaftlichen Schönheit, die Höhepunkte der Route. Immer wieder kommt man an historischen Orten vorbei, zum Beispiel zwischen Ftan und Ardez, wo der sanft ansteigende Winterwanderweg auf eine wuchtige Ruine zuführt, die man im Gegenlicht der Nachmittagssonne für eine Fata Morgana halten kann.

An der überhängenden Außenwand ist eine Infotafel montiert, die das rätselhafte Gebilde erklärt: Es handelt sich um die Überreste der „Taberna Ardezis“, die schon anno 831 erwähnt wurde. Spätestens seit dieser Zeit diente das Bauwerk als Warenlager und Nächtigungsort für die ersten Spediteure des Gebirges, die Säumer, vermutlich auch für Pilger und normale Reisende.

Erstaunliches erfahren wir auch über unseren Weg: Statt auf einer Forstschneise sind wir auf der Via Imperialis unterwegs, der einst wichtigsten Transitroute von Salzburg nach Mailand, die über das Tiroler und das Engadiner Inntal an den Comer See führte. Sogleich tauchen vor dem geistigen Auge wetterfest gekleidete Säumer auf, die schwer bepackte Bergpferde hinter sich herziehen.

Einer der intaktesten historischen Orte der Schweiz

In Ardez fühlen wir uns dann vollends im Mittelalter angekommen. Der 400-Seelen-Ort bietet nicht nur Reste einer markanten Burganlage, sondern auch eines der intaktesten historischen Ortsbilder der Schweiz. Von modernen Bausünden weitestgehend verschont, versammeln sich in den engen Gassen Engadinerhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert, von denen nicht wenige unter Denkmalschutz stehen. Schwer, nicht begeistert zu sein! Dass man hier so wunderbar in die Vergangenheit eintauchen kann, ist wesentlich einer Initiative von 1975 zu verdanken: dem Jahr des europäischen Denkmal- und Heimatschutzes.

Vor 50 Jahren entschieden sich die Eidgenossen dafür, dem damals schon rasanten Verlust historischer Bausubstanz nicht länger tatenlos zuzusehen. Ein erster Schritt bestand darin, aus jeder der vier Sprachregionen des Landes ein Musterbeispiel auszuwählen und die Bewohner bei der Erhaltung des Ortsbildes zu unterstützen. Im rätoromanischen Sprachraum erhielt Ardez den Zuschlag.

In der Folge wurden Dächer und Fassaden restauriert, die Dorfplätze mit ihren Brunnen erhielten ihre ursprüngliche Gestalt wieder. Zugleich wurde eine Umgehungsstraße gebaut, was die Wohn- und Lebensqualität in dem Ort deutlich erhöhte. Die Maßnahmen haben nicht nur die Bausubstanz vor dem Verfall gerettet, sondern auch das lokale Identitätsbewusstsein gestärkt.

Das Grundproblem eines Alpendorfs in neuerer Zeit war damit aber noch nicht gelöst: Wovon sollte man hier leben, schließlich bot die einstmals prägende Berglandwirtschaft kein Auskommen mehr? Im nahegelegenen Hauptort des Unterengadins konnte man entspannter in die Zukunft blicken: Scuol besaß inzwischen nicht nur ein respektables Skigebiet, sondern konnte dank seiner Mineralquellen auch noch an die alte Bädertradition anknüpfen. Ardez hingegen war den mit dem Auto anreisenden Gästen nur als Nadelöhr auf dem Weg zu ihrem Urlaubsziel in Erinnerung. Über Gemeinden, die die Aufrüstung zur Skistation versäumt hatten, schwebte nun das Damoklesschwert der Überalterung und Abwanderung.

Höhepunkte beim Wandern im Winter

Mittlerweile ist man aber klug genug, die vermeintliche Rückständigkeit als eigentliche Qualität zu vermarkten. Ardez hat sich zusammen mit den Nachbardörfern Lavin und Guarda 2021 der Vereinigung „Bergsteigerdörfer“ angeschlossen. Mit dem Projekt werden alpine Gemeinden unterstützt, die sich nicht dem Massentourismus verschrieben und ihren dörflichen Charakter bewahrt haben.

Voraussetzung für die Aufnahme in den Kreis der mittlerweile 40 Bergsteigerdörfer ist, dass man es nicht den Großen gleichtut und unkontrollierbare Investitionsspiralen in Gang setzt. Stattdessen müssen sich die Gemeinden zu einer naturverträglichen Entwicklung verpflichten und ihr beschauliches Ortsbild erhalten. Es braucht dafür keinerlei kostspielige und umweltschädliche Infrastruktur, es muss allenfalls die Werbetrommel gerührt werden.

Sven Berchtold, der für das Projekt zuständig ist, spricht von einer „Win-win-Situation“: „Ardez ist ein intaktes Dorf, wo Gäste in die gelebte rätoromanische Kultur und Sprache eintauchen können, im Sommer wie im Winter.“ Und die Einheimischen profitierten durch Arbeitsplätze im Gastgewerbe und durch die besser laufende Vermarktung ihrer hochwertigen lokalen Produkte.

Mit der Auszeichnung der drei Unterengadiner Dörfer haben die Alpenvereine ins Schwarze getroffen. Sie sind wahre kulturelle Highlights, die den Naturgenuss beim Winterweitwandern trefflich ergänzen. An der Kirche von Ardez trifft man auf die pinkfarbenen Holzpfähle, mit denen die Eidgenossen ihre „Wege in weiß“ zu markieren pflegen. Es geht nun kräftig aufwärts, aber der Blick auf die verschneite Dachlandschaft das ferner rückenden Dorfs versöhnt mit den Mühen, die das Laufen auf Schnee auch dann bedeutet, wenn die Wege perfekt präpariert sind.

Blick auf die Tiroler Alpen und die „Engadiner Dolomiten“

Auf der Route nach Guarda, dem bekannteren Bilderbuchdorf, geraten wir bald in eine großartige Panoramaposition: Im Osten reihen sich die Gipfel der Tiroler Alpen aneinander, im Süden glitzern die Dreitausender der „Engadiner Dolomiten“ im Gegenlicht – wildeste Bergnatur, die direkt in den Schweizer Nationalpark übergeht. Ein Reich des Schnees ohne Siedlungen, Strommasten und Seilbahngewirr.

Wer den etwas mühsamen Umweg über Munt scheut, verpasst viel. In Munt verbrachten die Einwohner von Ardez früher die Sommermonate, mitsamt Kühen, Ziegen und Schafen, die auf der Alp grasten. Jetzt, im Winter, regt sich hier nichts: Kein Rauch, der aus den Schornsteinen quillt, keine Bauern, die Ställe ausmisten, vor allem aber keine bunt gekleidete Skifahrermeute, die sich von den Lautsprechern einer Schneebar bedröhnen lässt. Stattdessen hört man nur das wunderbare Knarzen des Schnees unter den Sohlen, die rustikalen Steinbauten wirken wie in Watte gepackt. Der Winter ist hier oben noch das, was er früher einmal war: die Jahreszeit der Stille.

Guarda liegt auf einem aussichtsreichen Sonnenplateau und war schon früher als Ardez in eine Strukturkrise geraten: 1865 wurde nämlich die Engadiner Talstraße gebaut, die 200 Meter tiefer am Ort vorbeiführte und die alte Via Imperialis über Nacht bedeutungslos werden ließ. Für die Siedlung, in der es bis dahin zehn Herbergen gab, eine echte Katastrophe. Klar, dass einige Bewohner das sinkende Schiff verließen und sich der Ort nach und nach zu entvölkern drohte.

Verhindert hat das jedoch nicht nur die traditionelle Bodenständigkeit der rätoromanischen Bergbevölkerung, sondern vor allem der ortsansässige Architekt Iachen Ulrich Chönz: Ihm ist zu verdanken, dass in den 1940er-Jahren der Ort ganzheitlich restauriert wurde. Das hat sich ausgezahlt: 1985 wurde Guarda offiziell für sein „Ortsbild von nationaler Bedeutung“ ausgezeichnet. Das touristische Interesse ist inzwischen so groß, dass man an der Zufahrtsstraße eine Parkfläche in den Hang fräsen musste, damit die Leute auch wirklich zu Fuß durchs Dorf gehen.

Guarda und Ardez bieten authentische Wintererlebnisse

Zu den Aktivsten in Guarda zählt Maria-Luise Meier, die vor 30 Jahren hergezogen ist und Gäste mit ihren Dorfführungen verzaubert. Mit leuchtenden Augen erzählt sie Anekdoten, erklärt die wuchtige lokale Bauweise und übersetzt die Sinnsprüche und Sgraffiti, die die Wände verzieren. Auf die Bemerkung „Museumsdorf“ reagiert sie allergisch. Die Abwanderung sei längst gestoppt, 24 Kinder gebe es wieder in Guarda.

Die Teilnahme am Bergsteigerdorf-Projekt findet sie großartig: „Es kommen nicht nur Leute, die einmal durchs Dorf gehen und dann wieder verschwinden, sondern auch solche, die über Nacht bleiben.“ Und vor allem kämen Menschen, die sich in den Ferien nicht rund um die Uhr austoben, sondern die Ruhe der Bergwelt genießen wollten: mit Wanderstiefeln, Schneeschuhen oder Tourenskiern.

Die Winterweitwanderer sind ein willkommener Teil dieses neuen Publikums. Ihr Anteil dürfte wachsen. Je mehr sich die Alpen in einen technikstrotzenden Sport- und Spaßplatz verwandeln, desto wichtiger werden Orte wie Guarda und Ardez, die sich dem Ausverkauf ihrer Natur verweigern und authentische Wintererlebnisse bieten, deren besonderer Reiz darin liegt, was es alles nicht gibt: Bergbahntrassen, Verkehrsstaus, Remmidemmi.

Die These des Philosophen Odo Marquard könnte sich hier einmal mehr bewahrheiten: „Wer sich ganz langsam bewegt und die vermeintlich unausweichlichen Entwicklungsschritte nicht mitgeht, ist irgendwann wieder ganz vorn.“ Auch deshalb natürlich, weil man im Modus der Entschleunigung beim Winterweitwandern nicht weniger sieht und erlebt, sondern mehr.

Tipps und Informationen:

Anreise: Die bequemste Anreise bietet die Bahn: über Basel oder Zürich mit dem IC nach Landquart, weiter mit der Regionalbahn nach Scuol-Tarasp. Bei frühzeitiger Buchung bekommt man Europaspezialpreise unter 50 Euro pro Person und Strecke (bahn.de). Mit dem Auto entweder über Österreich via Innsbruck und Pfunds nach Scuol oder über die Schweiz via Basel und Zürich nach Vereina, von dort mit dem Autozug bis Sagliains im Unterengadin.

Weitwanderpauschalen: Das örtliche Tourismusbüro bietet Weitwanderpauschalen auf der Via Engiadina an, vier Tage mit vier Übernachtungen inkl. Frühstück und Gepäcktransport kosten um 1200 Franken (1278 Euro) für zwei Personen im Doppelzimmer, der genaue Preis ist abhängig vom Hotel und Datum, Start ist in Zernez, Ziel in Sent mit Wanderrichtung West–Ost (engadin.com/de/winterangebot/via-engiadina-winter). Wer will, kann individuell auch kürzere Aufenthalte buchen und von Ost nach West wandern.

Unterkunft: „Meisser Lodge“ im Dorfkern von Guarda, gemütliches Drei-Sterne-Hotel in historischem Ambiente, ruhige Lage, Doppelzimmer umgerechnet ab 213 Euro (hotel-meisser.ch); „Hotel Altana“ in Scuol, familiär geführtes, modern eingerichtetes Drei-Sterne-Haus, Doppelzimmer ab 224 Euro (altana.ch); „Hotel Baer & Post“ Traditionshaus in Zernez, modern-alpiner Stil, Doppelzimmer ab 211 Euro (baer-post.ch).

Weitere Auskünfte: Ferienregion Engadin Scuol Zernez: engadin.com; Schweiz Tourismus: myswitzerland.com; Bergsteigerdörfer: bergsteigerdoerfer.org

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