Es ist ein schwieriger Balanceakt: die Mitgliedstaaten bei der Sicherung ihrer Außengrenzen zu unterstützen und gleichzeitig auf die Einhaltung der Menschenrechte zu bestehen. Für diese Aufgabe ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex zuständig. Und dort wächst die Unruhe.

Der Grund: Griechenland weigert sich seit Jahren, die Praxis der illegalen Zurückweisung von Migranten in die Türkei – sogenannte Pushbacks – zu beenden. Nun stellt Frontex seine finanzielle Unterstützung für Athen infrage. Sollten zentrale Forderungen zur Verbesserung der Menschenrechtslage nicht umgesetzt werden, könnten Mittel gekürzt werden.

„Der Exekutivdirektor von Frontex (Hans Leijtens, Anm. d. Red.) hat erklärt, dass er erwartet, dass all diese Empfehlungen umgesetzt werden. Andernfalls werde er eine Reduzierung oder vollständige Einstellung der Finanzierung für kofinanzierte Ressourcen in Erwägung ziehen“, erklärte ein Frontex-Sprecher Anfang April. Gemeint sind damit beispielsweise Boote, die die Agentur Griechenland zur Verfügung stellt.

Intern wurde auch ein weiteres Szenario diskutiert – wie bereits 2023 nach Berichten über massive Menschenrechtsverletzungen: eine vollständige Aussetzung der Frontex-Mission in Griechenland. Laut Artikel 46 der Frontex-Verordnung kann sich die Agentur aus einem Land zurückziehen, wenn während einer von ihr unterstützten Operation schwere Grundrechtsverletzungen dokumentiert werden.

Nach Informationen von WELT AM SONNTAG und dem Magazin „Politico“, das ebenfalls zu Axel Springer gehört, hat Frontex nun eine neue Untersuchung gegen die griechischen Behörden eingeleitet – wegen eines Vorfalls am 3. April: An diesem Tag starben mindestens sieben Migranten, darunter ein Junge, ein Mädchen und zwei Frauen, als ihr Boot vor der griechischen Insel Lesbos sank.

Einer der Überlebenden wurde unter dem Verdacht festgenommen, ein Schleuser zu sein. Der griechische Aktivist Iasonas Apostolopoulos und ein Fotojournalist warfen der griechischen Küstenwache vor, das Boot gerammt und so dessen Untergang verursacht zu haben.

Das Büro des Frontex-Grundrechtsbeauftragten Jonas Grimheden arbeitet derzeit an einem sogenannten Serious Incident Report (SIR) zu dem Vorfall. Beamte versuchen, Überlebende des Vorfalls ausfindig zu machen, analysieren Video- und Fotomaterial und geben der griechischen Seite Gelegenheit zur Stellungnahme.

Ein Dutzend Ermittlungen

Die Untersuchung des Vorfalls vom 3. April ist nur eine von derzeit 13 mit Bezug zu Griechenland – damit ist Athen EU-weit einsame Spitze. In der vergangenen Woche teilte Frontex „Politico“ mit, dass es derzeit zwölf laufende Verfahren wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen gebe – der Vorfall vom 3. April war zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingerechnet.

Die Gesamtzahl solcher Vorfälle in Griechenland im Jahr 2024 liegt laut Frontex bei 16 – von insgesamt 56 innerhalb der gesamten EU. Die griechischen Behörden hatten Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit stets zurückgewiesen.

Dennoch kam das Team von Grimheden in den vergangenen Jahren regelmäßig zu dem Schluss, dass griechische Sicherheitskräfte Migranten illegal und teils gewaltsam in die Türkei oder in türkische Gewässer zurückdrängten – in manchen Fällen sogar auf Rettungsinseln aussetzten. Im Januar verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Griechenland erstmals wegen systematischer Pushbacks. Die Richter stellten fest, dass die Behörden Asylsuchende – darunter auch einen türkischen Staatsbürger – wiederholt und gezielt ohne rechtsstaatliches Verfahren in die Türkei abgeschoben hatten. Dies verletze die Europäische Menschenrechtskonvention.

Jonas Grimheden hatte sich bei den Diskussionen im Jahr 2023 für einen Rückzug von Frontex aus Griechenland ausgesprochen, mittlerweile bewertet er die Dinge anders. Bei einem Treffen mit WELT AM SONNTAG und „Politico“ am Mittwoch in Wien sagte er: „Wenn Frontex Griechenland verlassen würde, gäbe es keine Möglichkeit mehr, zu erfahren, wie die Behörden mit ankommenden Migranten umgehen. Die Agentur sorgt für Überwachung und Transparenz.“

Das Einfrieren von Finanzhilfen und der Abzug von Ausrüstung seien sinnvollere Maßnahmen – ebenso ein Eingreifen der EU-Kommission. „Es muss irgendeine Art von Strafe geben. Die Kommission ist selbst in der Lage, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten“, sagte er. „Frontex kann das Problem nicht allein lösen.“

Grimheden leitet seit 2021 das Frontex-Büro für Grundrechte. Sein Team von rund 70 Mitarbeitenden arbeitet unabhängig von der Agenturleitung unter dem niederländischen Exekutivdirektor Leijtens. Seit 2023 drängt er die griechischen Behörden zu einem Kurswechsel – bisher erfolglos. „Es ist frustrierend“, sagt er. „Griechenland bleibt unser größtes Problem im Hinblick auf Menschenrechte.“

Die Schiffskatastrophe von Pylos im Juni 2023 gilt als schwerstes Unglück im Mittelmeer. Schätzungsweise mehr als 600 Migranten kamen ums Leben, als ein überladenes Fischerboot vor der griechischen Küste kenterte – sie versuchten, von Libyen aus über das Meer nach Europa zu gelangen. Die Küstenwache hatte trotz früher Warnungen den Rettungseinsatz verzögert.

Überlebende berichteten danach, dass die Beamten der griechischen Küstenwache ein Seil an dem Boot befestigt und daran gezogen hätten, wodurch es ins Schlingern geraten und schließlich gekentert sei. Athen bestreitet das vehement. Kritisiert wird auch, dass die Beamten hätten schneller eingreifen müssen, um eine Katastrophe zu verhindern. WELT AM SONNTAG enthüllte damals, dass Athen die wahren Ereignisse des Unglückstages bewusst vertuscht hatte. „Politico“ berichtete, dass die griechischen Behörden eine Anfrage von Frontex, an jenem Tag ein Überwachungsflugzeug zu entsenden, unbeantwortet ließen. Der griechische Ombudsmann Andreas Pottakis empfahl schließlich Anfang dieses Jahres disziplinarische Maßnahmen gegen acht Küstenwachenbeamte wegen diverser Pflichtverletzungen.

Die Diskussionen um Frontex und Athen fallen in eine Zeit, in der europäische Staatenlenker einen immer härteren migrationspolitischen Kurs fahren oder fahren wollen – wie etwa in Deutschland.

Die Zahlen der illegalen Grenzübertritte in Europa sind derweil im ersten Quartal des Jahres 2025 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2024 um mehr als 30 Prozent zurückgegangen – das entspricht fast 34.000 Menschen weniger. Die meistgenutzte Route war weiterhin jene über Griechenland, Zypern und Bulgarien – trotz eines Rückgangs von 29 Prozent seit Jahresbeginn.

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