„Dann drängt man noch mehr Menschen in die illegale Zuwanderung“
Belit Onay (Grüne) ist seit November 2019 Oberbürgermeister der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover. Der 44-Jährige ist Mitglied des Präsidiums des Deutschen Städtetags. Er verfügt neben der deutschen auch über die türkische Staatsbürgerschaft.
WELT: Herr Onay, was müsste CDU-Chef Friedrich Merz tun, damit er zumindest aus Ihrer Sicht als Oberbürgermeister ein guter Kanzler wird?
Belit Onay: Es wäre sicher gut, wenn Herr Merz gerade bei dem großen Thema, das Bund, Länder und Kommunen in den kommenden Monaten beschäftigen wird – Ausbau der Infrastruktur und Wende hin zu einem wieder gut funktionierenden Land – die Zusammenarbeit mit den Kommunen sucht. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag setzt an einigen Stellen gute Impulse. Aber wenn es dann an die konkrete Ausgestaltung, um die Umsetzung geht, hat es in der Vergangenheit an der nötigen Zusammenarbeit und am Verständnis des Bundes für die Realität in den Kommunen gefehlt.
WELT: Wie könnte eine solche verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bund und Kommunen aussehen?
Onay: Es geht mir ausdrücklich nicht darum, noch eine Arbeitsgruppe zu gründen. Es geht um substanzielle Zusammenarbeit. Beispiel: Ein positives Signal des Koalitionsvertrages ist der geplante Bürokratieabbau. Das finden wir richtig und gut. Wir wissen aber auch, dass schon viele Bundesregierungen Bürokratieabbau angekündigt haben – die Kommunen dann aber im Ergebnis zum genauen Gegenteil gezwungen wurden.
WELT: Ein Beispiel?
Onay: Nehmen Sie die Bezahlkarte für Asylbewerber, zu der sich die neue Koalition in ihrem Vertrag bekannt hat. Die haben wir in Hannover als erste Kommune als Digitalisierungs- und Entbürokratisierungsmaßnahme eingeführt. Mit unserem Ansatz, der puren Umstellung von Bargeld auf Kartenzahlung, konnten wir die betreffende Abteilung um die Arbeit für sechs Kolleginnen und Kollegen entlasten.
In der Form, in der sie jetzt umgesetzt werden muss, entsteht das genaue Gegenteil: ein Bürokratiemonster. Mit den neuen Regelungen aus Berlin müssen die Kommunen Einzelfallprüfungen durchführen, für die bei der Einführung zehn zusätzliche Stellen nötig sind. Dieser Verwaltungsmehraufwand ist völliger Irrsinn.
WELT: Jenseits eines solchen eher kleinteiligen Projektes – wo sehen Sie im Koalitionsvertrag die Chance zu einer umfassenden Entbürokratisierung in den Kommunen?
Onay: Wünschenswert ist vor allem, dass die Umsetzung des Infrastruktur-Sondervermögens, das zu einem nicht unerheblichen Anteil den Kommunen zugutekommen soll, nicht erneut mit einer der üblichen endlosen Förderkulissen verbunden wird. Bisher war es in der Regel so, dass jeder Euro, der von der Bundesebene an die Kommunen fließen soll, mit einem immensen bürokratischen Aufwand für Förderanträge und Umsetzungsberichterstattung verbunden wird. Das ist ein echter Hemmschuh für die Umsetzung von Investitionsprojekten vor Ort.
Hinzu kommen die von den Kommunen zu erbringenden Eigenanteile als Voraussetzung, um Fördergeld zu erhalten. Diese Eigenanteile sind für viele hoch verschuldete Städte und Gemeinden kaum zu stemmen.
WELT: Wie könnte man die avisierte Investitionsoffensive des Bundes besser organisieren?
Onay: Laut Koalitionsvertrag will die neue Bundesregierung das „Deutschland-Tempo“, das den schnelleren Umstieg von russischem Gas auf LNG ermöglicht hat, auch auf andere Infrastruktur-Projekte anwenden. Das halte ich für einen richtigen Ansatz. Wir dürfen uns bei der dringend notwendigen Sanierung und Modernisierung nicht wieder in einem Bürokratie-Zirkus verlieren. Wir brauchen das Geld unkompliziert und schnell.
WELT: Und wenn das Geld da ist? Haben Sie dann überhaupt ausreichend Personal, um es zügig in Planung und Bau von Verkehrsinfrastruktur, Digitalisierung, Kitas, Krankenhaus zu investieren?
Onay: Richtig ist, dass Kommunen als Arbeitgeber nicht mehr hinreichend attraktiv sind. Wir haben ein echtes Personalproblem. Insofern brauchen wir neben den reinen Investitionsmitteln auch eine gute finanzielle Ausstattung unserer laufenden Haushalte. Steuerausfälle zulasten der kommunalen Ebene können wir uns nicht mehr leisten. Insofern betrachte ich den Koalitionsvertrag gerade an jenen Stellen mit Skepsis, an denen von Steuererleichterungen die Rede ist.
Ich gönne es jedem, weniger Steuern zu bezahlen – aber meine Sorge ist, dass die daraus folgenden Steuermindereinnahmen wieder zulasten der Kommunen gehen. Das geht nicht und würde die zusätzliche Schlagkraft konterkarieren, die uns das Infrastruktur-Sondervermögen verschaffen soll.
WELT: Haben Sie schon mal überschlagen, wie viel Geld aus dem sogenannten Sondervermögen in Hannover ankommen könnte?
Onay: Schwer zu sagen. Das kommt auch darauf an, wie viel Geld die Bundesländer selbst einbehalten und wie viel sie auf die Kommunen verteilen. Grob geschätzt sind es zwischen 30 und 60 Millionen Euro pro Jahr, die wir in Hannover zusätzlich investieren könnten. Bei einem Investitionshaushalt von derzeit 275 Millionen pro Jahr wäre das ein ordentlicher Schluck aus der Pulle.
WELT: Ein weiteres Thema, das die Kommunen in den vergangenen Jahren erheblich beschäftigt hat, ist der Bereich Migration und Integration. Er ist auch ein Schwerpunkt im schwarz-roten Koalitionsvertrag. Wie beurteilen Sie die entsprechenden Kapitel?
Onay: Positiv finde ich, dass Union und SPD einen Schwerpunkt auf Fachkräfte-Einwanderung und Integration legen. Die Sprach-Kitas sollen wieder eingeführt, das Startchancen-Programm ausgebaut werden. Das ist gut und wird vor allem den Menschen nutzen, die schon hier sind. Daneben gibt es im Koalitionsvertrag aber auch viel Symbolik, die uns in den Kommunen eher nicht weiterbringen wird. Im Gegenteil. Die Entscheidung, den Familiennachzug zu begrenzen, halte ich zum Beispiel für falsch.
WELT: Warum?
Onay: Weil wir hier vor Ort sehen, dass Integration und Teilhabe in der Regel im Familienverband besser gelingen, als wenn man es mit Einzelpersonen zu tun bekommt, die aus ihren Familien herausgerissen sind. Auch das von Schwarz-Rot geplante Aushebeln der Aufnahmeprogramme ist in diesem Sinn kontraproduktiv. Es sind ja genau diese Aufnahmeprogramme, die in der Regel die einzige Möglichkeit sind, kontrolliert und legal nach Deutschland zu kommen. Stellt man diesen Weg zu, drängt man noch mehr Menschen in die illegale Zuwanderung.
WELT: Ein ganz anderes Thema: Sie waren in der vergangenen Woche als Leiter einer Delegation des Deutschen Städtetags in Istanbul, der Stadt des gerade vom Erdogan-Regime verhafteten Bürgermeisters Ekrem Imamoglu. Was war Ihr Eindruck?
Onay: Die Festnahme Imamoglus war ein Schock. Für ihn selbst, für die Stadt, auch für das ganze Land. Ich hatte drei Tage vor seiner Inhaftierung noch Kontakt mit ihm, weil er im Mai zur Hauptversammlung des Deutschen Städtetags nach Hannover kommen und hier eine Rede halten wollte. Er hat offenkundig nicht mit einer Festnahme gerechnet – entsprechend groß war auch jetzt noch die Frustration der Menschen in Istanbul. Das wiederkehrende Muster in der Türkei ist ja, dass Hoffnungsträger der Opposition vom Regime in Ankara aus dem Spiel genommen werden.
WELT: Sehen Sie eine Chance, dass Imamoglu demnächst wieder freikommt?
Onay: Es gibt nach meinem Empfinden wenig Anlass zum Optimismus. Wichtig wäre – das haben auch die Bürgermeister und Oberbürgermeister aus der Türkei, die wir in Istanbul getroffen haben, immer wieder zum Ausdruck gebracht – dass sich Europa und Deutschland noch solidarischer zeigen, als es bisher der Fall war.
Ulrich Exner ist WELT-Korrespondent für Norddeutschland und berichtet seit 2010 unter anderem über die niedersächsische Landes- und Kommunalpolitik.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke