Nur wenige Tage nach der Vorstellung des Koalitionsvertrags zwischen Union und Sozialdemokraten könnte ein handfester Konflikt entstehen – ausgelöst durch den mutmaßlich künftigen Bundeskanzler, Friedrich Merz (CDU). Das am Mittwoch veröffentlichte Papier stellt eine Erhöhung des Mindestlohns in den Raum. Dieser liegt derzeit bei 12,82 Euro pro Stunde.

Die Mindestlohnkommission solle über die weitere „Entwicklung“ des Mindestlohns beraten – und sich „im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren“, heißt es im Vertrag von CDU, CSU und SPD. Und dann wird es konkret: „Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar.“

Für Merz ist das allerdings keine feste Einigung. „Es wird keinen gesetzlichen Automatismus geben“, sagte der Unionskanzlerkandidat in einem „Bild“-Interview. Man habe lediglich vereinbart, dass die Mindestlohnkommission „in diese Richtung denkt“. So könnte eine entsprechende Erhöhung zum 1. Januar 2026 oder 2027 kommen. Auch das sei jedoch der Kommission überlassen, so Merz. „Es wird keine gesetzliche Regelung geben.“ Auch eine Steuerentlastung für Beschäftigte sei „nicht fix“.

Merz könnte nun Ärger mit seinem künftigen Koalitionspartner bekommen – denn für die Sozialdemokraten ist die Erhöhung auf 15 Euro offenbar ausgemachte Sache. So lobt der SPD-Parteivorstand explizit mit jenem vermeintlichen oder tatsächlichen Erfolg in den Koalitionsverhandlungen auf der eigenen Homepage: „Der Mindestlohn wird bis 2026 auf 15 Euro steigen“, heißt es in einem Schreiben an die Parteimitglieder zur bevorstehenden Mitgliederabstimmung über den Vertrag.

SPD pocht auf die Erhöhung des Mindestlohns

„Wir sagen klar: Die Krisen unserer Zeit lassen sich nur solidarisch meistern“, sagt auch Dagmar Schmidt, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Man habe im Koalitionsvertrag die Orientierung am europäischen Mindestlohnziel, also 60 Prozent des Medianlohns, verankert. „Damit ist der Weg geebnet: Der Mindestlohn wird sich dynamisch bis 2026 in Richtung 15 Euro entwickeln – das stärkt Millionen Beschäftigte, entlastet die sozialen Sicherungssysteme und ist wirtschaftlich vernünftig“, so Schmidt zu WELT.

Leistung müsse sich lohnen, nicht nur für wenige, sondern für die „hart arbeitende Mitte“, so die Sozialdemokratin. „Deutschland braucht gerechte Löhne – starke Tariflöhne und einen anständigen Mindestlohn und keine Steuergeschenke für Spitzenverdiener.“

Die Unionsfraktion bekräftigt hingegen Merz‘ Lesart: Aus dem Koalitionsvertrag leite sich eben kein Automatismus ab. „Die Festsetzung des Mindestlohns ist und bleibt Aufgabe der unabhängigen Mindestlohnkommission. Daran halten wir als Union fest – auch als künftige Regierungsfraktion“, so Stephan Stracke (CSU), Sprecher der Unionsfraktion für Arbeit und Soziales. „Politisch motivierte Festlegungen per Gesetz lehnen wir ab. Denn sie können Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum gefährden.“

Die Mindestlohnkommission entscheide „sachlich und politisch unabhängig“, die Orientierung an Tarifentwicklungen und den 60 Prozent des Bruttomedianlohns sei im Koalitionsvertrag festgelegt worden. Nun werde sachlich und politisch unabhängig geprüft. „Das stärkt die Tarifautonomie und sichert Arbeitsplätze“, sagt Stracke zu WELT. „Wer jetzt schon das Ergebnis vorgibt, missachtet diesen klaren Auftrag.“

Eine „große Nicht-Einigung“ sei der Koalitionsvertrag

Die Grünen halten den Koalitionsvertrag für „eine große Nicht-Einigung“. „Friedrich Merz wird das nutzen, die Mitte ärmer und die Reichsten reicher machen. Die SPD hätte sowas nie unterschreiben dürfen“, sagt Andreas Audretsch, Bundestagsabgeordneter und zuletzt stellvertretender Grünen-Fraktionsvorsitzender. „Noch bevor er zum Kanzler gewählt ist, hat Friedrich Merz 15 Euro Mindestlohn schon eine Absage erteilt.“ Über 800.000 Menschen arbeiteten in Deutschland und seien trotzdem auf Bürgergeld angewiesen.

„Wer zu einem kleinen Lohn hart arbeitet, soll weiter arm bleiben“, sagt Audretsch WELT. Dies zeige sich auch in anderen Bereichen des Koalitionsvertrags: „Die Einkommensteuer soll nun doch nicht sinken, die Lohnnebenkosten werden aber durch die Decke gehen. Und das Klimageld ist auch abgesagt.“ Es werde teurer für die arbeitende Mitte, so Audretsch.

Die AfD hält den Konflikt um den Mindestlohn für den „ersten Härtetest“ der künftigen Koalition. „Schon jetzt widersprechen sich Koalitionsvertrag und Kanzler in spe. Das zeigt, wie wenig Substanz hinter den vollmundigen Versprechen steht“, sagt René Springer, Sprecher für Arbeit und Soziales der AfD-Bundestagsfraktion.

Der Mindestlohn dürfe nicht zum „politischen Spielball“ werden, Löhne sollten „wirtschaftlich darstellbar und an der Produktivität orientiert sein“, sonst gefährde man Arbeitsplätze in kleinen Betrieben und im ländlichen Raum. „Wir stehen zur Arbeit der unabhängigen Mindestlohnkommission – nicht zu staatlich diktierten Löhnen“, sagt Springer.

Linke sieht „Klientelpolitik für die Reichsten“

Den Sozialdemokraten bleibe entweder die offene Konfrontation oder die Akzeptanz der Merz-Linie, so der AfD-Politiker. „Beides legt offen, wie brüchig die Koalition von Anfang an war.“ Insgesamt löse der Koalitionsvertrag keine strukturellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt. „Der Vertrag liest sich wie ein Sammelsurium aus Wunschdenken und Floskeln. Für Arbeitnehmer und Betriebe bedeutet das vor allem eins: Stillstand und Unsicherheit.“

Die Linke kritisiert Merz scharf. „Noch nicht mal im Amt, zeigt Friedrich Merz Flagge: Die Menschen, die für den mickrigen Mindestlohn schuften, der vorne und hinten nicht zum Leben reicht und nach einem harten Arbeitsleben direkt in die Altersarmut führt, sind ihm schlicht egal“, sagt Heidi Reichinnek. Die Linke-Fraktionschefin hält einen guten Mindestlohn gerade in strukturschwachen Gegenden für stärkend. „Wer ein Erstarken der Rechten in diesem Land verhindern möchte, muss den Alltag der Menschen verbessern – durch auskömmliche Löhne und Renten, durch bezahlbare Mieten und Lebensmittel.“ Dafür bleibe der Bundesregierung nicht viel Zeit. „Diese Klientelpolitik für die Reichsten, Militarisierung der Gesellschaft und harter Sozialabbau werden aber weiter den Rechten den Weg ebnen.“

Reichinnek macht vor allem den Sozialdemokraten Druck. Durch viele „schwammige Formulierungen im Koalitionsvertrag“ entstehe erst jener „Raum für Interpretationen“. „Für die SPD war der Mindestlohn der große Erfolg in den Verhandlungen. Merz fällt seinem Koalitionspartner mit dieser Aussage brutal in den Rücken“, so Reichinnek gegenüber WELT. Beim Mindestlohn wie bei Steuersenkungen für niedrige und mittlere Einkommen müsse die SPD auf konkretere Formulierungen bestehen.

Für die Linke gibt es im Koalitionsvertrag im Hinblick auf Arbeitnehmerrechte großen Änderungsbedarf. „Statt Schutzrechte zu stärken, soll die Arbeitszeit ‚flexibilisiert‘, also ausgeweitet, und Mehrarbeit steuerlich begünstigt werden.“ Die Maßnahmen begünstigten gerade nicht die unteren Einkommensgruppen, Alleinerziehende und Pflegende. „Die SPD lässt die Gewerkschaften und Beschäftigten im Stich. Die Prekarisierung schreitet voran“, so Reichinnek.

Noch müssen SPD und CDU dem Koalitionsvertrag zustimmen. Der Bundesausschuss der CDU soll am 28. April stattfinden. Die Sozialdemokraten starten am Dienstag eine Mitgliederbefragung, das Ergebnis soll wiederum am 30. April verkündet werden. Die CSU wiederum hat bereits zugestimmt.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Innenpolitik, insbesondere über die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht.

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