„Im Ernstfall besonders betroffen“ – Wie sich Schüler für den Ausnahmezustand wappnen sollen
Die geschäftsführende Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hält es für notwendig, Schüler in Deutschland stärker auf Krisenlagen und potenzielle Kriegsszenarien vorzubereiten. Faeser sagte dem „Handelsblatt“, angesichts der sicherheitspolitischen Lage müsste „ein stärkerer Fokus auf den Zivilschutz gesetzt werden, auch schon in der Schulbildung“.
Bereits Anfang 2024 hatte die damalige Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) vorgeschlagen, Notfallwissen und Verhaltensregeln im Krisenfall im Unterricht zu verankern – in Anlehnung an Programme in Großbritannien oder Finnland.
Auch aus der Union kommt Unterstützung: Der CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter sprach sich für ein verpflichtendes Krisentraining an Schulen aus. Schüler seien „besonders verletzlich und im Ernstfall besonders betroffen“, sagte er – und nannte ebenfalls Finnland als Vorbild, wo solche Übungen seit Jahrzehnten zum Schulalltag gehören.
Baden-Württemberg ist derzeit das einzige Bundesland, das bereits konkrete Maßnahmen zur Krisenvorsorge an Schulen umgesetzt hat. Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 beschloss die Landesregierung, Kinder und Jugendliche künftig stärker auf Naturgefahren und andere Krisensituationen vorzubereiten.
Seit dem Schuljahr 2023/24 werden an allen weiterführenden allgemeinbildenden Schulen sogenannte „Aktionstage Katastrophenschutz“ durchgeführt. Parallel dazu wurde das Thema auch in den Bildungsplan integriert. Die bisherigen Rückmeldungen aus den Schulen seien „durchweg positiv“, heißt es aus dem Kultusministerium in Baden-Württemberg.
Laut Faeser brauch es nun auch deutschlandweit ein höheres Bewusstsein für Krisenvorsorge. Der Bund sieht sich dabei in der Verantwortung, den Schutz der Zivilbevölkerung im Kriegs- oder Spannungsfall zu gewährleisten – etwa durch strategische Planung und überregionale Koordination. Für den Katastrophenschutz im engeren Sinne, etwa bei Naturereignissen, bleiben hingegen die Länder zuständig.
Kinderschutzbund warnt vor „Dauerkrisenmodus“
Während Befürworter betonen, es gehe bei der schulischen Krisenvorbereitung um Selbstschutz und Aufklärung, warnen Kritiker vor einer schleichenden Verschiebung des Bildungsauftrags. Besonders aus der Linken kommt scharfer Widerspruch.
„Wer dachte, mit den Endlos-Schulden für Aufrüstung sei das Thema durch, sieht sich getäuscht“, teilte die Linke-Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke mit. Die künftigen Koalitionäre von Union und SPD planten offenbar einen „umfassenden Kulturwandel hin zu einer militarisierten Gesellschaft“ und wollten „die Menschen in einen Dauerkrisenmodus versetzen“. Bei Kindern und Jugendlichen werde damit „nur Angst geschürt“. Zivilschutz werde so zur „Kriegsvorbereitung“, das erinnere an das „Gebaren aus dem Kalten Krieg“, so Gohlke.
Auch die Beteiligung der Bundeswehr an schulischen Veranstaltungen – etwa durch Jugendoffiziere – gilt Teilen der Opposition als problematisch. Die Schule, so der Vorwurf, würde so zum Ort politischer Einflussnahme unter dem Deckmantel der Sicherheitserziehung.
Gegen diese Kritik wehrt sich der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll. „Wir reden hier nicht über Luftschutzübungen oder Wehrunterricht“, sagte er WELT. Es gehe vielmehr um Reanimation, Brandschutz, Notfallwissen – Inhalte, die auch im normalen Alltag relevant seien. Düll fordert eine „ehrliche Aufklärung“ über Risiken, ohne Panik zu verbreiten. Wenn nötig, könnten auch Fachleute – etwa aus dem Katastrophenschutz oder der Bundeswehr – als externe Experten eingeladen werden.
Daniel Grein, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes, warnt hingegen davor, Kinder in einen „Dauerkrisenmodus“ zu versetzen. Zwar sei es legitim, sie auf reale Gefahren vorzubereiten – etwa auf Stromausfälle oder Naturkatastrophen – aber nicht, den Eindruck einer ständigen Bedrohung zu vermitteln. „Kinder sollen nicht in dem Gefühl aufwachsen, dass die Welt morgen untergeht“, sagte Grein WELT. Katastrophenschutz im Sinne einer Stärkung von Resilienz sei sinnvoll – „aber kindgerecht und ohne Bezug zu Kriegsszenarien“.
Besonders für Kinder aus Kriegsgebieten wie etwa der Ukraine, die ohnehin sensibel auf Alarm oder Sirenengeräusche reagierten, brauche es pädagogisches Feingefühl. Dem Vorwurf einer „militarisierten Gesellschaft“, wie ihn die Linke formuliert, begegnet Grein mit Differenzierung: Falls es tatsächlich um die Vorbereitung auf kriegerische Auseinandersetzungen ginge, „wäre das aus unserer Sicht höchst problematisch“.
Wie andere Länder Kinder vorbereiten
In anderen Ländern ist Krisenvorbereitung längst Teil schulischer Bildung. In Finnland gehören Notfalltrainings und Katastrophenschutz seit Jahren zum Lehrplan. Norwegen weist Kinder bereits ab der Grundschule in Erster Hilfe ein – dort beginnt in über 80 Prozent der Herzinfarkt-Fälle sofort eine Wiederbelebung. In Deutschland liegt die Quote bei rund 40 Prozent. In Israel sind Alarmübungen und Schutzräume in Schulen Alltag, ergänzt durch psychologische Begleitung.
Wie unterschiedlich Krisenvorbereitung in Europa aussehen kann, zeigt der Blick nach Polen. Dort wurde an einigen Schulen ein neues Unterrichtsfach eingeführt, das auch Schießtraining umfasst. In Regionen nahe der ukrainischen Grenze lernen Jugendliche den Umgang mit Sportwaffen – kombiniert mit Disziplintraining und Verantwortungsschulung.
Gleichzeitig fehlt es in vielen deutsch Schulen an den grundlegendsten Voraussetzungen. Laut dem aktuellen Kommunalpanel der KfW-Bank beläuft sich der Investitionsstau im Schulbereich auf rund 55 Milliarden Euro – so viel wie in keinem anderen Bereich der öffentlichen Infrastruktur. Marode Gebäude, veraltete Ausstattung, überlastete Lehrpläne: Für viele Schulen ist Krisenvorbereitung keine inhaltliche Frage – sondern eine Frage der Umsetzbarkeit.
56 Prozent der Kommunen bewerten die Mängel an ihren Schulen als „gravierend“. Gleichzeitig fehlen qualifizierte Lehrkräfte, um überhaupt regelmäßigen Unterricht sicherzustellen – geschweige denn zusätzliche Module zur Zivilschutzbildung zu entwickeln. Brandschutzübungen und Erste-Hilfe-Kurse sind vielerorts bereits jetzt die Ausnahme.
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe kündigte auf WELT-Anfrage an, man stehe bereit, Schulen mit Materialien für junge Menschen und Lehrpersonen zu unterstützen. Es begrüße eine stärkere Einbindung von Zivilschutzwissen in der Bildung ausdrücklich. Zugleich betont das Amt, dass die Verantwortung für Lerninhalte aber weiterhin bei den Ländern liege.
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) ist bereits an vielen Schulen aktiv – vor allem mit Erste-Hilfe-Kursen, Schulsanitätsdiensten und Programmen zur persönlichen Notfallvorsorge. Das DRK begrüßt eine stärkere Einbindung von Krisenvorbereitung in den Schulunterricht – unter der Voraussetzung, dass feste Strukturen und eine verlässliche Finanzierung sichergestellt seien. Schon jetzt würde die Nachfrage im Bereich der Erste-Hilfe-Schulungen die Zahl der verfügbaren Plätze übersteigen. Damit die Pläne umgesetzt werden können, braucht es aus Sicht des DRK daher mehr Geld vom Bund.
Der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) sieht in der schulischen Krisenvorbereitung einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Resilienz. Auf Anfrage der WELT teilte der ASB mit, man verfüge über umfangreiche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Schulen – insbesondere im Bereich der Ersten Hilfe und der Schulsanitätsdienste. Auch der ASB signalisiert Bereitschaft, sein Engagement weiter auszubauen.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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