Deutsche Stärke gegen autoritäre Mächte? Wo Schwarz-Rot sein eigenes Ziel ignoriert
Der Weg von der Erkenntnis zum Handeln gleicht in der deutschen Politik einem langen, trägen Fluss. Bereits in den 1990er-Jahren war in den verteidigungspolitischen Richtlinien die Feststellung nachzulesen, dass die Sicherheitspolitik eines „ganzheitlichen Ansatzes“ bedürfe. In den Weißbüchern der Jahre 2006 und 2016 wurde daraus der Begriff der „vernetzten Sicherheit“, in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 mutierte „vernetzt“ zu „integriert“.
Den Wortschöpfungen folgten jedoch nie institutionelle Schlussfolgerungen, jedes Regierungsressort verharrte in seinem Silo. Rhetorisch waren alle für Koordination, aber tatsächlich mochte niemand koordiniert werden.
Insofern nähert sich der Koalitionsvertrag von Union und SPD nun endlich dem Flussdelta. Er kündigt die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats im Kanzleramt an, der die Sicherheitspolitik „koordinieren, Strategieentwicklung und strategische Vorausschau leisten, eine gemeinsame Lagebewertung vornehmen und somit ein Gremium der gemeinsamen politischen Willensbildung sein“ soll. Ergänzt wird der Rat durch einen Krisenstab und ein Lagezentrum. Ob aus den Strukturen auch Strategiefähigkeit wird, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab. Aber die Absicht ist ein Quantensprung.
Im Vertragskapitel zur Außen- und Verteidigungspolitik finden sich einige überfällige Vorhaben, bei denen man sich fragt: Warum erst jetzt? So sollen „sämtliche Voraussetzungen“ geschaffen werden, damit die Bundeswehr „die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung uneingeschränkt erfüllen kann“. Es bleibt der Pferdefuß, dass die finanziellen Mittel dafür schuldenfinanziert sein werden.
Eine Reihe weiterer Ankündigungen wie weniger Mikromanagement durch die Haushälter des Bundestags, die Beschleunigung von Planung, Beschaffung und Kasernenbau oder die Bindung der Entwicklungshilfe an außenpolitische Vorgaben könnten im Falle der Umsetzung Dysfunktionalitäten beseitigen.
Kommt jetzt also der Vollzug der bislang nur versprochenen Zeitenwende? Leider nicht so umfassend, wie es nötig wäre.
Litauen-Brigade „zentraler Beitrag“? Eher ein kleiner Teil
Die in der Präambel des Koalitionsvertrages formulierte Ambition, den „historischen Herausforderungen“ durch autoritäre Mächte mit eigener Stärke begegnen zu wollen, wurde an einigen Stellen schlicht ignoriert. Vor allem beim Personal. Obwohl es der Bundeswehr seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 nie gelang, genügend Soldaten zu rekrutieren, bleibt es „zunächst“ bei der Freiwilligkeit des Wehrdienstes.
Mit dem Modell, lediglich die Wehrerfassung und das Ausfüllen von Fragebögen verpflichtend zu gestalten, verharrt Schwarz-Rot beim unzureichenden Ampel-Konzept. Die Idee des Generalinspekteurs, mit zunächst nur 5000 zusätzlichen Rekruten pro Jahr und der Reaktivierung überalterter Reservisten auf eine Zielgröße von 460.000 Soldaten aufzuwachsen, wird absehbar nachgebessert werden müssen und kostet wertvolle Zeit.
Völlig unverständlich ist zudem die Behauptung der Koalitionäre, die Litauen-Brigade sei „unser zentraler Beitrag für Abschreckung und Verteidigung der Nato-Ostflanke“. Sie ist ein vergleichsweise kleiner Beitrag, nötig sind dazu die Divisionen des Heeres sowie die Fähigkeiten aller Teilstreitkräfte. Auch die Ausführungen zum transatlantischen Bündnis mit den USA sind eher zum Wunschzettel denn zum Konzept geraten. Und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, im Grunde eine Abteilung des Auswärtigen Amtes, wird als Versorgungsposten weiter gepflegt – allen Kohärenzerwägungen zum Trotz.
Um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, bis 2029 zur „Bewahrung eines Friedens in Freiheit und Sicherheit“ in vollem Umfang verteidigungsfähig zu sein, ist der sicherheitspolitische Fluss noch immer zu träge.
Der Politische Korrespondent Thorsten Jungholt schreibt seit vielen Jahren über Bundeswehr, Sicherheitspolitik, Justiz und die FDP. Seinen Newsletter „Best of Thorsten Jungholt“ können Sie hier abonnieren.
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