Der Schweizer Ökonom und Konfliktforscher Dominic Rohner ist Professor am Graduate Institute in Genf. Er forscht seit rund 20 Jahren zur Entstehung von Kriegen und hat in seinem Buch „The Peace Formula“ auf Basis von Forschung zu vielen globalen Konflikten eine Formel für Frieden entwickelt.

WELT: Herr Rohner, für Ihr Buch haben Sie eine „Friedensformel“ erarbeitet. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Dominic Rohner: Alles, was ich in meinem Buch schreibe, beruht auf Hunderten Statistiken zu den Themen Krieg und Frieden. Wenn man sich die 50 ärmsten Länder der Welt anschaut, waren die allermeisten in bewaffnete Konflikte verwickelt. Die Folgen sind gravierend: Man betrauert nicht nur Millionen von Toten, sondern man verzeichnet in Bürgerkriegen einen Verlust von durchschnittlich 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und eine extrem langsame wirtschaftliche Erholung.

WELT: Gelten diese 18 Prozent nur für Bürgerkriege?

Rohner: Es gibt keinen Grund zu glauben, dass ein Krieg zwischen Staaten weniger destruktiv sei. Ökonomisch kennt ein Krieg in den meisten Fällen keine Gewinner. Ein Vorurteil sagt: Wenn die Wirtschaft schwach ist, fang‘ einen Krieg an. Das stimmt so nicht. Am Ende profitieren höchstens einzelne Leader oder Firmen von der Kriegswirtschaft. Außerdem entstehen Teufelskreise, die über Generationen andauern: Ein Krieg führt zu Armut, Armut erhöht das Risiko für Krieg, ebenso wie erodierendes Vertrauen in den Staat oder fehlende Schulbildung. Warlords haben es wesentlich einfacher, in einer fragilen Gesellschaft Leute zu rekrutieren, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt, die eigene Familie zu ernähren. Ein Rebell zu sein, ist ein Business. Die Leute kämpfen, um Geld zu verdienen.

WELT: Wenn es fast keine Gewinner gibt: Warum kommt es dann trotzdem immer wieder zu Krieg?

Rohner: Zuerst einmal ist es laut Forschung extrem selten, dass sich demokratische Länder untereinander angreifen. Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Frieden ist so stark, dass das fast als physikalisches Gesetz gilt. Autokratische und demokratische Länder führen dagegen häufiger gegeneinander Kriege, ebenso wie Autokratien untereinander. Wenn wir mehr Demokratien im internationalen System hätten, hätten wir weniger Kriege.

WELT: Welche Gründe stecken dahinter?

Rohner: Die Staatschefs in Autokratien gewinnen bei einem Krieg mehr und bezahlen einen niedrigeren Preis als das Durchschnittsvolk. Die Kinder der Diktatoren werden selten in den Kriegsdienst eingezogen, stattdessen müssen gesellschaftliche Randgruppen aus ruralen Gegenden an die Front. Die Leute sind ja nicht doof, sie wissen, was Krieg bedeutet. Besonders interessant ist eine Studie, die das Abstimmungsverhalten von US-Parlamentariern im 20. Jahrhundert untersucht hat, als die USA in mehrere Kriege involviert waren. Damals wurden vermehrt junge Männer eingezogen. Wer männliche Nachkommen hatte, hat demnach pazifistischer abgestimmt als Parlamentarier mit Töchtern.

WELT: Was sie gerade beschreiben, ist die erste Säule der „Friedensformel“, die Sie in Ihrem Buch entschlüsselt haben wollen. Sie nennen das „Voice“, also die Repräsentation des Volkes in den Parlamenten. Die zweite Säule haben Sie als „Work“ definiert – obwohl damit weniger der allgemeine Wohlstand eines Landes gemeint ist, sondern vielmehr die ökonomischen Perspektiven für den Einzelnen.

Rohner: Ja, wenn die Menschen sich ihren Lebensunterhalt auf legale Art und Weise sichern können, haben sie keine Lust, einem Warlord zu folgen. Anders ist es mit schlechter Ausbildung und schlechter Wirtschaft – unter diesen Umständen sind die Leute leichter rekrutierbar.

WELT: Gibt es diese Wahl denn immer und für jeden? Der ökonomische Anreiz ist das eine, aber manchmal liegt die Entscheidung doch auch nicht in der eigenen Hand.

Rohner: In internationalen Kriegen zwischen Staaten mit starken Armeen hat das Individuum oft nicht die Wahl. In ärmeren Ländern ist der Staat jedoch oft schwach, etwa im Niger oder in der Demokratischen Republik Kongo, wo die Regierung über weite Teile des Landes die Kontrolle verloren hat. In solchen Fällen schießen bewaffnete Gruppen wie Pilze aus dem Boden. Denen geht es teilweise nur darum, eine bestimmte Mine zu kontrollieren. Aus den Einnahmen werden dann neue Söldner rekrutiert. Dahinter steht eine ökonomische Logik, in der richtige Buchhaltung über Einnahmen und Ausgaben betrieben wird.

WELT: Kommen wir zur dritten Friedenssäule, den Sicherheitsgarantien. Was ist darunter zu verstehen?

Rohner: Wenn ein Staat zwar ein inklusives System hat und die Wirtschaft wiederbeleben will, aber schwach im Hinblick auf Sicherheit ist, fehlt die Substanz des Staatsapparats. Ein Beispiel ist der Sudan: Premierminister Abdalla Hamdok packte mit einem Team von gut ausgebildeten Technokraten durchdachte Reformen an. Doch ein paar Jahre später gab es einen Putsch, bei dem die Armee das Zepter übernahm. Es folgte ein Machtkampf zwischen zwei Generälen, der das Land in einen blutigen Bürgerkrieg stürzte. Es ist schade, dass der Sudan damals nicht durch UN-Blauhelme und einen Marshallplan unterstützt wurde. Es gibt auch Studien über den Wiederaufbau des Iraks, die zeigen, dass gut durchdachte Politik nicht auf fruchtbaren Boden fällt, wenn die Sicherheit nicht gewährleistet ist. In einzelnen Fällen schaffen Länder das ohne externe Hilfe, aber oft braucht es den Einsatz anderer Staaten durch UN-Blauhelme. An der Stelle könnte der Westen wirklich einen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten.

WELT: Bedeutet Ihre Friedensformel letztlich, dass jeder Staat die Form einer westlichen Demokratie annehmen müsste? Ist das nicht die alte gescheiterte Idee, anderen Staaten unsere Staatsform schmackhaft zu machen?

Rohner: Das Argument höre ich häufiger. Ich bin davon nicht überzeugt. Dass der Staat mit den Menschen nicht machen kann, was er möchte, ist kein exklusiv westliches Prinzip. Im Rahmen des „World Happiness Report“ werden jedes Jahr Menschen aus 143 Ländern die gleichen Fragen gestellt. Die skandinavischen Länder sind meistens ganz oben, ungleiche Gesellschaften wie die USA erscheinen etwas tiefer im Ranking, Schlusslicht war zuletzt Afghanistan. Dabei würde die Taliban-Regierung sagen: Wir regieren nach dem Willen des Volkes, ihr Imperialisten wollt uns bloß eure demokratischen Ideale aufdrängen! Tatsächlich bedingen jedoch weltweit ähnliche Faktoren ein glückliches Leben, etwa ein gutes Gesundheitssystem, Mitspracherecht oder wenig Korruption.

WELT: Würde für Autokratien die Einführung der Demokratie nicht eine strategische Schwächung im Kriegsfall bedeuten? In der Ukraine muss Präsident Wolodymyr Selenskyj Bürger rekrutieren und sich gleichzeitig dafür kritisieren lassen, dass die Wahl ausgesetzt wurde. Wladimir Putin dagegen zieht Soldaten und Söldner aus abgelegenen Regionen ein und muss sich um Kritik in der Presse oder eine Wiederwahl keine Sorgen machen.

Rohner: Ihre Frage stellt in den Raum, dass Autokratien gegenüber Demokratien in Kriegssituationen einen Grundvorteil haben. Die Faktoren, die sie aufzählen, sind treffende Argumente – aber es sind nicht die einzigen. Empirische Forschung besagt, dass Autokratien kurzfristig wirtschaftlichen Erfolg haben können, Demokratien aber mittelfristig reicher sind. Und Geld hilft, Kriege zu gewinnen. Das reiche demokratische Amerika konnte – mithilfe seiner Verbündeten – Nazi-Deutschland besiegen, als es schließlich in den Zweiten Weltkrieg eingetreten ist. Außerdem ist in Demokratien der Informationsfluss besser. Falls Sie der verantwortliche Offizier sind, werden Sie sich in einer Autokratie vielleicht nicht trauen, zu melden, dass etwa die Panzerflotte nicht funktioniert.

WELT: Sie sagen, dass sich seit 2022 mehr als 50 Länder gleichzeitig in bewaffneten Konflikten befinden, mehr als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Woran liegt das?

Rohner: Wir beobachten seit zehn Jahren einen Anstieg an bewaffneten Konflikten – und parallel einen Rückgang der Demokratien. Da gibt es mit Sicherheit einen Zusammenhang. Lange hatten wir sogenannte „Demokratiewellen“, die immer wieder von „Autokratiewellen“ unterbrochen wurden. Wenn wir Glück haben, ist der aktuelle Rückgang auch nur ein vorübergehender Trend.

WELT: Mit dem Wissen aus Ihrer Forschung – gibt es einen Rat, den Sie den Verhandlern im Ukraine-Krieg gerne an die Hand geben würden?

Rohner: Am Ende sind wir da wieder bei den drei Pfeilern, die ich in meinem Buch beschreibe. Es ist wichtig, der Ukraine bei einem potenziellen Friedensschluss genug Sicherheitsgarantien zu geben. Außerdem kann nicht von oben über das Schicksal der Bevölkerung entschieden werden. Und es braucht eine starke wirtschaftliche Basis für die Zukunft.

Dominic Rohner, „The Peace Formula: Voice, Work and Warranties, Not Violence“, Cambridge University Press, 40,99 €.

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