Aus militärischer Sicht kommt ein Waffenstillstand für Putin zur falschen Zeit
Russische Soldaten kriechen durch eine Gaspipeline, um Staatsgebiet für Moskau zurückzuerobern. Wie auch immer sich Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine vorgestellt hat, so ganz gewiss nicht. Tatsächlich haben Kämpfer des Kremls in den vergangenen Tagen mehr als zehn Kilometer in unterirdischen Röhren zurückgelegt, um hinter die ukrainischen Linien in Kursk zu kommen. Das sollen Videoaufnahmen belegen.
Das Überraschungsmanöver in der russischen Region blieb lange unbemerkt und war ein Grund dafür, warum die ukrainischen Verteidigungsstellungen zusammenbrachen. An mehreren Flanken stießen Moskaus Truppen bei dem koordinierten Angriff gleichzeitig vor. Prorussische Militärblogger feiern die Pipeline-Angreifer als Märtyrer: „Echte Krieger. Alle wurden vergiftet, einige wurden getötet, aber sie haben ihre Aufgabe erfüllt“, heißt es in einem Beitrag.
Die rasanten russischen Geländegewinne seit Anfang März haben den Endkampf um Kursk eingeleitet. Am Dienstag hielten ukrainische Einheiten nur noch ein Restgebiet um Sudscha. Videos am Mittwochmorgen zeigen jedoch, dass russische Einheiten bereits Teile der Kleinstadt eingenommen haben. Da den ukrainischen Truppen eine Einkesselung droht, wäre auch ein vollständiger Rückzug auf ukrainisches Territorium in Sumy möglich. Bislang hat die ukrainische Führung einen solchen Abzug aber nicht bestätigt.
„Alles hängt nun davon ab, ob die Ukrainer sich geordnet zurückziehen und ob sie von bereit gestellten eigenen Verbänden aufgefangen werden können. Ist beides nicht der Fall, kann es tatsächlich dazu kommen, dass die Russen einfach weiter vorstoßen“, sagt der österreichische Militäranalyst Markus Reisner.
Über Wochen hatte die russische Armee die Versorgungswege attackiert, vor allem die einzige Hauptstraße, die von der ukrainischen Grenzregion nach Kursk führt. Gleichzeitig stürmten russische Soldaten trotz enormer eigener Verluste ununterbrochen an, unterstützt durch Elitedrohneneinheiten und Nordkoreaner. Diktator Kim Jong-un soll laut Schätzungen europäischer Geheimdienste rund 12.000 Kämpfer nach Kursk geschickt haben.
Ukrainische Soldaten der 117. Territorialen Verteidigungsbrigade hatten WELT im Grenzgebiet bei Kursk bereits im Januar von russischen Sabotageangriffen berichtet. Schon damals mussten sich die ausgedünnten Truppen langsam zurückziehen.
Russlands Armee gewinnt die Oberhand
Der Kampf um die letzte ukrainische Bastion in Kursk hat auch Auswirkungen auf mögliche Friedensverhandlungen. Am Dienstagabend stimmte die ukrainische Führung einem Vorschlag der US-Regierung für eine 30 Tage lange Waffenruhe mit Russland zu. Im Gegenzug kündigten die USA nach einem vorübergehenden Stopp an, wieder Militärhilfen und Geheimdienstinformationen an die Ukraine zu senden. Laut US-Außenminister Marco Rubio sei nun der Kreml unter Zugzwang. „Wenn sie nein sagen, werden wir leider wissen, was dem Frieden hier im Wege steht.“
Noch hat sich Wladimir Putin nicht zu einer möglichen Waffenruhe geäußert. Aus politischen Gründen wäre eine formelle Zustimmung des amerikanischen Vorschlages denkbar. Das Einlenken der ukrainischen Delegation setzt den Kreml unter Druck. Die USA haben mögliche weitere Sanktionen gegen Russland als Option genannt. Ob Putin sich davon abschrecken lässt, ist unklar. Anders sähe es vermutlich aus, wenn Donald Trump zum Beispiel mit der Lieferung neuer weitreichender Waffensysteme an die Ukraine drohen würde.
Was die Front angeht, hat Russland derzeit wenig Gründe, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Seine Armee hat an nahezu allen Abschnitten die Initiative übernommen. Das Chaos in Kursk bietet nicht nur die Chance, die ukrainischen Einheiten vollständig aus russischen Gebieten zu verdrängen, sondern die Offensive möglicherweise hinter der Grenze in Richtung Sumy fortzusetzen.
Dies würde Russlands Position bei möglichen Gesprächen über einen langfristigen Frieden deutlich stärken. Denn Präsident Wolodymyr Selenskyj will die Gebiete in Kursk eigentlich als Verhandlungsmasse einbringen. „Wir werden ein Gebiet gegen ein anderes tauschen“, sagte er vor wenigen Wochen in einem Interview mit dem britischen „Guardian“.
Mit der Offensive in Kursk war der ukrainischen Führung im August 2024 ein Überraschungscoup gelungen. In den ersten Tagen überrannten die Angreifer russische Stellungen und nahmen vorübergehend mehr als 1000 Quadratkilometer in der russischen Region ein. Mehr als zwei Drittel des Gebiets eroberten Putins Truppen bis Anfang März zurück. Es war die erste Invasion durch ausländische Bodentruppen auf russischem Territorium seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die ukrainische Führung hat den Einsatz in Kursk als Teil ihrer Strategie beschrieben, den Krieg nach Russland zu tragen. Nur so, das ist die Überzeugung im Selenskyj-Lager, könne der Kreml unter Druck gesetzt werden. „Wir führen allen vor Augen, dass Russland nicht in der Lage ist, sein Territorium zu verteidigen, dass der Krieg in vollem Umfang auf dem Territorium Russlands ausgetragen werden kann“, sagte Selenskyjs Berater Michajlo Podoljak zuletzt im Gespräch mit WELT. Er verwies darauf, dass die Ukraine durch die Invasion einem russischen Bodenangriff in Sumy zuvorgekommen sei. Und dass Russland rund 30.000 Soldaten in Kursk stationiert habe, die sonst in der Ukraine kämpfen würden.
Unter Militärexperten hat die Kursk-Operation eine breite Debatte ausgelöst. Das eine Lager hält die Offensive für eine richtige Entscheidung, weil sie die Ukraine nach vielen zermürbenden Monaten in der Defensive wieder in die Initiative gebracht hat. Das andere kritisiert den Vorstoß mit Verweis auf die stetigen Gebietsverluste in der Ostukraine. Demnach wäre Kiew besser beraten gewesen, Tausende Elitesoldaten zur Stabilisierung der Front im Donbass einzusetzen.
„Kursk ist für die Ukraine nicht eine Entscheidungsschlacht wie Waterloo im Jahr 1815 für Napoleon. Es drängt sich eher der Vergleich mit der deutschen Ardennenoffensive im Dezember 1944 auf. Damals wie heute waren die Ziele zu weit gesteckt, und trotz des Einsatzes von kampfkräftigen Verbänden gelang es nicht, sie zu erreichen“, sagt Oberst Markus Reisner, Leiter des Instituts für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.
Die Front im eigenen Land konnten ukrainische Truppen allerdings inzwischen wieder stabilisieren. Im Fokus steht immer noch der Kampf um die ostukrainische Stadt Pokrowsk, ein zentraler logistischer Knotenpunkt für die gesamte Region. Russische Einheiten greifen hier ununterbrochen an, seit mehreren Wochen ist ihnen aber kein entscheidender Durchbruch mehr gelungen.
WELT hat in den vergangenen Tagen mit mehreren ukrainischen Soldaten gesprochen, die an Hauptfrontabschnitten im Donbass kämpfen. Sie bestätigen, dass Russlands Offensive in der Ostukraine an Tempo verloren hat. Sowohl beim eingesetzten Kriegsgerät als auch beim Personal gebe es derzeit Engpässe.
„Wir beobachten, dass die Russen immer mehr verletzte Soldaten an die Front schicken, die manchmal kaum noch laufen können“, sagt Bodendrohnenpilot Michailo. Er ist Teil der Asow-Brigade und in der Nähe von Tschassiw Jar im Einsatz. Der großflächig zerbombte Frontort hat aufgrund seiner Hügellage ebenfalls eine große Bedeutung. Obwohl russische Einheiten an den Flanken bereits vorgestoßen sind, hält die Ukraine weiterhin Teile von Tschassiw Jar unter Kontrolle. Und die Armee hat in den vergangenen Wochen gezeigt, dass sie weiterhin zu begrenzten Vorstößen in der Lage ist. Sowohl in der Nähe von Pokrowsk als auch bei der weiter östlich gelegenen Stadt Torezk eroberten ukrainische Truppen Gebiete zurück.
Ibrahim Naber ist seit 2022 Chefreporter von WELT und berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine und aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.
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