Von Weitem schon hört man das Lachen: Kinder, die auf einem Klettergerüst toben. Daneben duckt sich ein Mädchen in den Schatten der Fassade, ihr Blick starr in die Ferne gerichtet. Hier, im Wilhelmstift, sind mehrere Patienten so still, gedämpft, verschlossen. Das könnte an Medikamenten liegen, die sie erhalten, sogenannte Neuroleptika. Sie schieben sich wie ein Schleier vor die Gefühle, dimmen Wahnideen herunter, ersticken Aggressionen. Das Hamburger Kinderkrankenhaus ist bekannt für seine krisenerprobte Jugendpsychiatrie. Hier behandeln sie Patienten, für die andere Ärzte und Therapeuten keine Lösung mehr wissen.

Was Kinder dazu bringt, um sich zu schlagen, und wie man dem als Psychiater begegnen sollte, ist das Lebensthema von Christian Bachmann, Chefarzt der Klinik. „Neuroleptika können sinnvoll sein, aber nur, wenn alles andere versagt“, sagt er. Bachmann wird derzeit häufig nach diesen Wirkstoffen gefragt. Grund ist ein Prozess am Bonner Landgericht.

Angeklagt ist der prominente Kinderpsychiater Michael Winterhoff (WELT AM SONNTAG berichtete), am 30. April ist der letzte Prozesstag angesetzt. Winterhoff soll Kinder, manche noch im Kindergarten, vor allem mit Pipamperon und anderen Neuroleptika ruhig gestellt haben, für Monate oder Jahre. Die psychoaktiven Substanzen wirken an den Kontaktstellen der Nervenzellen im Gehirn, auch dort, wo Persönlichkeit und Denkvermögen reguliert werden.

36 Fälle werden vor Gericht verhandelt, aber es könnte um Hunderte Betroffene gehen. Der Prozess wirft die Frage auf, welche Spätschäden solche Eingriffe in die Kinderseele verursachen. Mitte Februar hatte die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift verlesen, Winterhoff selbst äußerte sich nicht. Seine Verteidigerin Kerstin Stirner wies in einem Statement alle Vorwürfe zurück. Der Psychiater hätte Tausende Patienten erfolgreich behandelt. Ziel seiner Behandlung sei es gewesen, seine Patienten, die sich in schweren psychischen Ausnahmezuständen befunden hätten, emotional zu entlasten. Was steckt dahinter?

In Deutschland sind etwa drei Dutzend Neuroleptika zugelassen, davon 15 auch für Kinder- und Jugendliche. Neben der Behandlung von Schizophrenie und bipolarer Störung können sie helfen, schwierige Kinder führbar zu machen: Laut einer Aufstellung des Fachmagazins „Psychopharmakotherapie“ über leitliniengerechte Therapien sind Neuroleptika eine Option, falls Kinder mit ADHS, Autismus oder Intelligenzminderung „herausfordernde Verhaltensstörungen“ entwickeln, also aggressiv werden.

Das ist Christian Bachmanns Spezialgebiet. Er erklärt: Vor allem bei Kindern mit unterdurchschnittlichem IQ werde in Fachkreisen Risperidon empfohlen, bereits ab fünf Jahren. „Die Behandlung darf aber nicht länger als sechs Wochen dauern“, sagt er. „Und ja, auch Pipamperon wäre unter bestimmten Umständen leitliniengerecht. Es hilft bei Erregungszuständen, als Dämpfer im Notfall, als Dauermedikation ist es nicht vertretbar.“ Warum dennoch Zurückhaltung bei Neuroleptika ratsam ist, erklärt das „Deutsche Ärzteblatt“: Patienten würden unter einer Verarmung der Gefühle und verlangsamtem Denken unter dem Verlust von Einfallsreichtum leiden.

Kinder „gefügig gemacht“

Focht das den Facharzt Winterhoff nicht an? Während er ab 2009 durch Bestseller-Bücher und Talkshow-Auftritten, in denen er aufmüpfige Kinder als Tyrannen bezeichnete und einen autoritären Erziehungsstil als Mittel gegen sie predigte, berühmt wurde, soll er mutmaßlich ein Geschäft mit der Behandlung von Heimkindern aufgebaut haben, das auf zweifelhaften Diagnosen und dem reihenweisen Einsatz von Psychopharmaka beruhte. Laut Recherchen von WDR und „Süddeutscher Zeitung“ soll er Rezepte für nahezu alle Kinder dort ausgestellt haben. Grund der Behandlung: „frühkindlicher Narzissmus“.

„Wer so etwas in eine Patientenakte schreibt, hat eine Vollmeise“, sagt ein deutscher Kinderpsychiatrie-Chef, der nicht namentlich zitiert werden möchte. „Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter zu diagnostizieren ist meist unangebracht“, urteilt auch Bachmann. In einer Stellungnahme schreiben die Medienanwälte Winterhoffs daher, dass es sich nicht etwa um eine Diagnose, sondern vielmehr um eine „Arbeitshypothese“ gehandelt hätte. Nach Ansicht der Staatsanwälte behandelte Winterhoff seine Patienten mit den dämpfenden Substanzen nicht aus medizinischen Gründen, sondern, „um sie gefügig zu machen“.

Und Winterhoff ist offenbar nicht der Einzige. Seit Jahren werden Ärzte freigebiger mit Neuroleptika-Rezepten für junge Patienten, derzeit werden in Deutschland schon vier von 1000 Kindern damit behandelt, Tendenz stark steigend. In den USA, dem Vorreiter des Trends, bekommt nach einer Zählung der Johns Hopkins University jeder Zweite im Jugendhilfesystem, der Psychopharmaka erhält, ein Neuroleptikum, in der Regel länger als empfohlen.

Der Wirkstoff Pipamperon wurde 1961 unter dem Markennamen „Dipiperon“ zugelassen. Noch bis 2020 war unklar, wie sich das Molekül bei Kindern genau im Körper verteilt. Das änderte sich, als Forscher aus Rotterdam Proben von 51 Pipamperon-Patienten zwischen sechs und 18 Jahren aus den Niederlanden und Deutschland untersuchten.

Ihren Berechnungen zufolge ist die deutsche Dosier-Empfehlung, dreimal pro Tag ein Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht, viel zu hoch. Reichen würden zweimal 0,6 Milligramm pro Kilogramm, bei einem 30 Kilogramm schweren Kind ein Drittel der üblichen Dosis. Winterhoffs Rezepte hingegen sollen nach Angaben Betroffener weit über der Empfehlung gelegen haben, um die Kinder „emotional erreichbarer“ zu machen. Mehrere der Interviewten beklagen, für lange Zeit so betäubt gewesen zu sein, dass sie ihre Kindheit regelrecht verschlafen hätten.

Pipamperon macht dämmerig, weil unter seinem Einfluss „die Durchblutung in Teilen des Gehirns abnimmt“, wie die Niederländer erklären. Wird ein Gehirnbereich längere Zeit schlechter durchblutet und daher weniger benutzt, wird das Netzwerk der Nervenzellen schwächer, die Gehirnregion baut ab.

Nach Angaben der Arzneimittelkommission der Bundesärztekammer können Langzeittherapien mit Neuroleptika bei Erwachsenen das Gehirn schrumpfen lassen. Ob es das Denken dauerhaft verlangsamt, ist bisher nicht untersucht worden, auch nicht, ob es den gleichen Effekt bei Kindern gibt.

In der niederländischen Studie mit den niedrigen Dosierungen wirkte jedes fünfte Kind sediert, fast ebenso viele zeigten bereits „extrapyramidale Symptome“, also vorübergehende oder dauerhafte Bewegungsstörungen. Die motorischen Regionen im Gehirn der Behandelten verändern sich so, dass ihre Körperteile entweder unkontrolliert zucken und zittern oder sich besonders langsam und roboterhaft bewegen. Winterhoffs Anwälte schreiben: In keinem Fall sei es aufgrund der Medikation zu einer körperlichen Beeinträchtigung gekommen.

Das Gehirn kann schrumpfen

Psychiater Bachmann ist nicht allein über den Bonner Kollegen befremdet. Seit Jahren dokumentiert er mit Kollegen die Freigiebigkeit deutscher Ärzte bei der Verordnung von Neuroleptika bei Kindern und Jugendlichen. In einer Analyse deutscher Krankenkassendaten zwischen 2011 und 2020 für das Fachmagazin „Frontiers in Psychiatry“ hatte sich die Zahl der Behandelten in manchen Altersgruppen in nur neun Jahren verdoppelt. Eine andere Berechnung, für Verordnungen zwischen 2005 und 2012, hatte auch schon Verdopplungen dokumentiert, bei den zehn- bis 14-Jährigen mit Pipamperon.

Es ist dieselbe Zeit, in der Michael Winterhoff mit seinem ersten Buch berühmt wurde. Der Kinderpsychiater traf einen Nerv. Kurz zuvor hatte erstmals eine Zeitung das Wort „Systemsprenger“ für einen jugendlichen Totschläger verwendet. Ein Wort, das auch Winterhoffs Anwälte wiederholt nutzen, um das Vorgehen ihres Mandanten zu begründen.

Sehen sich Psychiater solche Kinder an, finden sie oft jene Störungsbilder, die auch mit Neuroleptika behandelt werden können. „Auch, nicht ausschließlich“, warnt Bachmann. „Es gibt nämlich schonendere und dabei ebenso wirksame Behandlungen.“ Etwa Psychotherapien: Seine Klinik bietet Eltern wie Pflegefamilien Trainings an, zehn Termine mit vielen praktischen Tipps. Bei Kindern mit geringer Frustrationstoleranz sei es essenziell, wie man mit ihnen spreche. „Man kann so loben, dass es kaum ankommt. Und so, dass es sie richtig stolz macht“, sagt Bachmann.

Die Eltern lernen etwa, dass Kinder deswegen wütend werden können, weil sie die Ansagen der Erwachsenen nicht richtig verstehen oder weil diese so klingen, als ob sie unerfüllbar wären. Ein Beispiel: Wenn ein Erwachsener sagt, das Kind solle still sitzen, klinge dies nach immer, meint Bachmann. Besser sei: ,Sei mal ruhig, solange wir essen. Danach kannst du wieder herumrennen!‘ Dann gebe es einen Horizont, die Kinder hätten den Eindruck, es schaffen zu können.

Vor allem in Großbritannien und Skandinavien wurden Elterntrainings als kostengünstige Alternative zu Neuroleptika untersucht. „Ob Familien das absolviert haben, ist noch nach zehn Jahren an den Kindern zu sehen“, sagt Bachmann. „An ihrem Verhalten, und sogar an ihrem Gehirn.“

In einer Studie hätte man Veränderungen der Nervenzellnetzwerke festgestellt: So waren bei Kindern mit Verhaltensstörungen Areale für das emotionale Empfinden und solche in denen Entscheidungen geplant werden, nur schwach miteinander verknüpft. Durch den therapeutischen Einsatz zugewandter Eltern wurden Verbindungen verstärkt. Nur Kinder, denen Psychotherapie nicht hilft, kommen laut Leitlinien für Neuroleptika infrage. Und doch werde sich nach Bachmanns Erfahrung gerade in Heimen, wo sich verhaltensauffällige Kinder sammeln, nicht daran gehalten. „Aus Personalmangel.“

Der Chefarzt hat selbst schon erlebt, dass Jugendhilfeeinrichtungen um Sedierung ihrer Problemkinder betteln. Dann wäre ein klares Nein gefragt. Aber können Kinderpsychiater als Unternehmer in der eigenen Praxis so konsequent bleiben? Der Psychiater, der namentlich nicht genannt werden möchte, nennt Verordnungen an Heime die „schnellen Scheine“: „Dort kann man mit kleinem Zeitaufwand auf einen Schlag mehrere Dutzend Patienten pro Quartal abrechnen. Ich kenne viele, die angesichts dieser Verlockung nachgeben.“

Michael Winterhoff rechnete laut WDR 800 Patienten pro Quartal ab. Der Durchschnitt pro Kinderpsychiater liegt in Nordrhein-Westfalen deutlich darunter, bei 324 Patienten. Winterhoff bestreitet in Stellungnahmen seiner Medienanwälte die Vorwürfe, betont, immer individuell, kindgerecht und mit verschiedenen therapeutischen Ansätzen behandelt zu haben. Für eine Verurteilung müsste man nachweisen, dass ein Patient nur wegen Pipamperon zittert und der andere nur wegen der Sedierung zu lange nach Worten sucht und nicht aus anderen Gründen. Beweise, die kaum kausal zu führen sind.

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