Das Dilemma eines gebärfreudigen Beckens
Sitzbein, Schambein, Kreuzbein – Kenner der Anatomie wissen, dass sich daraus das Becken formt. Eine Körperregion, die Laien meist gemeinhin als Hüfte bezeichnen. Bei Frauen sind die Knochen des Beckengürtels aber nicht nur die Halterung für Wirbelsäule und Beine, sie formen zudem den Geburtskanal, den ein Baby passieren muss.
Auf die Welt zu kommen, das ist beim Menschen allerdings ein schwieriger Vorgang. Im Vergleich zu den anderen Primaten hat Homo sapiens im erwachsenen Alter wirklich einen Riesenschädel. Je größer die Gehirne, somit auch die Köpfe der Kinder im Laufe der Zeit wurden, desto mehr kann das bei der Geburt für Probleme sorgen, denn der Geburtskanal verengte sich mit den grundlegenden Veränderungen des Beckens. Ein Dilemma!
Widerlegte These
Mit dem Übergang zur Zweibeinigkeit, die der Mensch im Unterschied zu Schimpansen bestens beherrscht, veränderte sich zum Beispiel die Morphologie des Beckens. Es wurde kürzer und breiter, was eine aufrechte Körperhaltung und eine effiziente Fortbewegung ermöglichte.
Wissenschaftler stellten in den 1960er-Jahren die These auf, dass das „Geburtsdilemma“ durch die Evolution gemildert wurde: Indem Menschen vergleichsweise weniger entwickelte Kinder zur Welt bringen. Neurologisch so unreif, dass deren Köpfe den engeren Geburtskanal noch leicht passieren können.
Diese Theorie wurde jedoch durch neuere Studien zunehmend infrage gestellt. Vergleichsanalysen zeigten, dass die Dauer der menschlichen Schwangerschaft und die Größe der Neugeborenen mit der anderer Primaten ähnlicher Größe vergleichbar sind.
Allerdings gibt es, wie Leser von Herrenmagazinen ebenso gut wie Gynäkologinnen wissen, auch beim Menschen anatomische Unterschiede. Da sind die Frauen mit breiter „Kiste“, bei denen die Babys beinahe durchflutschen, und die anderen mit schmalen Hüften, bei denen es unter der Geburt kaum vorangeht, sodass ein Kaiserschnitt vorgenommen werden muss. Warum?
Forscher um Vagheesh Narasimhan, Professor für Integrative Biologie an der University of Texas in Austin, wollten nun wissen, was ein optimal geformtes weibliches Becken beim Menschen ausmacht. Welche Fakten sind beteiligt? Und sie wollten herausfinden, welche gesundheitlichen Folgen drohen, wenn der Geburtskanal zu eng – oder zu weit – ausfällt.
Die Daten dafür, Röntgenbilder nebst Erbinformationen, holten sie sich aus der „UK Biobank“, einer britischen Datensammlung von umfangreichen Gesundheitsdaten. Berücksichtigt wurden am Ende die Details von 31.115 Frauen, die Analyse übernahm eine speziell trainierte KI.
Sieben Beckentypen
Das Computerprogramm sortierte die weibliche Vielfalt, dann sahen sich die Forscher an, welche Genvarianten mit den jeweiligen Formen einhergehen. Und sie suchten nach Daten zu Geburt und Beckenbodenfunktion, zu Fortbewegung und orthopädischen Problemen.
Im Fachmagazin „Science“ berichten die Forscher jetzt, dass es sieben verschiedene Beckentypen gebe. Deren Proportionen seien mit bis zu 48 Prozent erblich, geprägt von etwa 180 Genen. Zudem entstünden bestimmte Eigenschaften, wie unterschiedliche Verformungen an der rechten und linken Körperhälfte, offenbar dadurch, dass eine Frau Rechts- oder Linkshänderin ist.
Die alte Annahme, dass Frauen mit einem engeren Geburtskanal häufiger Notkaiserschnitte oder andere Interventionen während der Geburt brauchen, damit sie und das Kind überleben, konnte die Analyse bestätigen. Für diese Gruppe gibt es zudem einen orthopädischen Nachteil: Diese Frauen leiden häufiger unter Rückenschmerzen.
Der Zusammenhang einer bestimmten Form der Knochen des Geburtskanals ist bemerkenswert. Dass bestimmte Schmerzphänomene ihren Ursprung im Beckenboden haben, ist schon lange bekannt. Die bisherige Erklärung dazu fokussierte sich allerdings auf die Muskulatur. Die Probleme würden auftreten, weil Rücken, Rumpf und Beckenboden eine Muskelkette bildeten. Und die Schmerzen entstehen, weil eine geschwächte Beckenbodenmuskulatur die Rückenmuskeln zu stark belastete.
Die Beckenbodenmuskeln spannen sich – parallel zum Boden – zwischen Scham- und Steißbein. Während einer Geburt weiten sie sich und finden danach nicht immer zu alten Kraft zurück. Von Beckenbodenschwäche und Rückschmerzen betroffene Frauen wurde zu sehr viel Yoga geraten, um die Muskeln dort zu trainieren. Nun müssen weitere Studien klären, ob das immer so zielführend ist. Die schmal angelegte Knochenstruktur verändert sich ja durch das Training nicht.
Aber Frauen mit weitem Becken bleiben von orthopädischen Problemen nicht verschont. Der US-Analyse zufolge müssen sie befürchten, dass sich im Alter ihre Hüfte an der Kontaktstelle zum Oberschenkelknochen entzündet und einen Gelenkersatz unumgänglich wird. Außerdem haben sie ein deutlich erhöhtes Risiko für Inkontinenz und einen sogenannten Gebärmutterprolaps. Dabei senkt sich die Gebärmutter so sehr, dass sie aus der Scheide hervorschaut.
Und es gibt für sie durchaus einen evolutionären Nachteil. Durch die anderen Winkel im Becken verkleinert sich der Spielraum der Beine: Frauen mit breiten Becken gehen und rennen messbar langsamer als gleich große Frauen mit schmalem Geburtskanal. Also könnte, in sehr früheren Zeiten, ausgerechnet den Gebärfreudigen die Flucht – vor Raubtieren oder anderen Gefahren – schwerer gefallen sein.
Offenbar gab es, so die US-Forscher, in der menschlichen Evolution einen Zielkonflikt: zwischen der Entwicklung einer gebärfreudigen Hüfte für große Köpfe – und den Anpassungen an den aufrechten Gang. Manche Frauenkörper zeigen die perfekten Eigenschaften einer Läuferin, andere sind dank ihrer Gene eher fürs Kinderkriegen optimiert.
Die Forscher sind nach ihrer Analyse überzeugt, dass zwischen der Evolution des menschlichen Gehirns und des weiblichen Beckens ein enger Zusammenhang bestand. Sie stießen auf genetische Korrelationen von Beckenform, also Geburtskanal, und Kopfgröße. Das „Geburtsdilemma“ wurde demnach durch deren Koevolution gelöst, nicht durch eine verkürzte Schwangerschaft.
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